Kyle & Luke
Kyle hatte Autos noch nie sonderlich gemocht. I mean - wieso auch? Er selbst konnte sie nicht bedienen und er war in New York groß geworden - und damit in einem der wenigen Orte in Amerika, wo man auf diese Dinger nicht angewiesen war. Die einzigen Male, an welchen er hinten in einem Auto gesessen hatte, waren jene gewesen, wo er vom Personal des Hauses oder aber manchmal auch von seiner Mutter zur Privatschule, welche weiter entfernt lag, oder aber zurück von jener, gefahren wurde. Was nicht allzu viele Male waren - wenn man bedachte, dass er nach ein paar Jahren nicht mehr dorthin gebracht und stattdessen von zu Hause aus unterrichtet wurde. Er konnte Autos einfach nicht leiden. Präferierte andere Möglichkeiten der Transportation. Er wusste gar nicht, ob er, seitdem er nicht mehr zur Schule gefahren wurde, vor seiner spontanen Flucht von Zuhause, zusammen mit Luke, jemals wieder in ein Auto gestiegen war. Wahrscheinlich nicht. Es gab ja Niemanden, der ihn hätte fahren können. Und wie gesagt - er konnte Autos nicht leiden. Er fühlte sich in ihnen unwohl. Hatte dies auch dann getan, als die beiden besten Freunde zusammen in einem alten Fahrzeug ihre Flucht, ihre Reise durchs Land begonnen hatten. Zunächst. Aber dann, relativ schnell - da hatte er sich verdammt sicher gefühlt, in diesem Auto, neben diesem Kerl, der nicht mal einen verdammten Führerschein hatte. Machte das Sinn? Vielleicht nicht. Aber neben Luke hatte sich der Amerikaner einfach immer sicher gefühlt. Egal wo. Egal wann. Vertrauen.. war so eine Sache. Sie machte Sachen, die unlogisch erschienen, mit einem Mal logisch. Es gab sonst keine Erklärung für dieses Verhalten - außer einem verdammt riesigen Vertrauen, welches zwischen ihm und Luke herrschte. Ein Vertrauen, dass so groß war, dass er sich nicht nur sicher neben Luke gefühlt hatte, sondern auch.. geborgen. Es war fast wie eine kleine Auszeit von der Welt gewesen, jedes Mal wenn Luke sich hinter das Steuer setzte, den Zündschlüssel drehte und Kyle neben ihm nach Musik suchte, welche die Reise durchs Unbekannte begleiten würde. Eine kleine Auszeit von der Welt.. huh. So etwas gab es Heute nicht. Wie.. schade?
Es war also ironisch. Dumm. Naiv. Dass Luke Kyle genau das gleiche Vertrauen entgegen brachte, wie der Schwarzhaarige es bei ihm tat. Dass er ihn hinters Steuer ließ. Und dass der Ältere sie beide zusammen gnadenlos in einen Unfall hinein manövrierte. Und dabei auch noch eine dritte Person mit in die Tiefe gerissen hatte. Dass es sich so für Luke anfühlte, in jenem Moment. Aber das machte Sinn, nicht? So endete es immer, wenn man dem Russen vertraute. Tat es das..? Und.. vertraute Kyle tatsächlich, wirklich, wahrhaftig seinem besten Freund? Er war sich nicht.. sicher. Genauso wenig, wie er sich sicher war, was er gerade erwartete. Was auf sein Geständnis folgen würde.
Es war Verwirrung. Tränen. Noch mehr, als ohnehin schon. Luke schnappte nach Luft. Seine Stimme zitterte, zitterte so so sehr, als er sprach. Der Schwarzhaarige wusste wirklich nicht, was er erwartet hatte. Nichts. Alles. Gab es überhaupt eine Erwartungshaltung, die man haben konnte, nachdem man etwas so grauenhaftes aussprach? Nachdem man es tat, obwohl man wusste, wie sehr er der Person, die man über alles auf der Welt liebte, weh tat? Luke hatte vor wenigen Sekunden, vor wenigen Sätzen noch gesagt, dass er ihn liebte. Kyle hatte diese Liebe erwidert - und trotzdem war er sich bereits nicht mehr sicher, ob sie es tatsächlich taten. Ob diese wenigen Sekunden nicht gereicht hätten, um diese Liebe auszulöschen. Er glaubte Luke, glaubte ihm von ganzem Herzen.. und gleichzeitig tat er es nicht. Es war.. so verdammt schwer ihm zu vertrauen. Seit wann war es so schwer das zu tun? Er war doch sonst immer in das verdammte Auto gestiegen. Aber das Auto.. existierte wohl nicht mehr. War ein Wrack, zerstört - weil der Blauhaarige das Vertrauen an die falsche Person weitergebracht hatte.
Sein bester Freund ließ ihn nicht aus den Augen. Starrte ihn an. Starrte aus diesen Augen, von welchen der Punk mit einem Mal das Gefühl hatte, dass dessen Flammen mit einem Mal erstickt wurden. Sie leuchteten nicht so, wie sie es sonst für ihn taten, nicht? Es schmerzte. Alles in den Russen schrie danach auf seinen Freund zu zu gehen, ihn in den Arm zu nehmen, ihn irgendwie zu trösten. Aber er tat es nicht. Er hatte Angst. So verdammt große Angst. Und Luke stellte Fragen. Fragte wieso. Fragte wie. Wieso stellte er solche Fragen?? Es war fair, machte Sinn. Aber Gott verdammte Scheiße - wieso stellte er diese verfickten Fragen??
Kyle blickte seiner besseren Hälfte entgegen, wortlos, ein paar Augenblicke, dann entkam ihm ein nervöses Glucksen zwischen den ganzen Tränen, die nie ein Ende gefunden hatten. Nicht, weil es lustig war. Nichts an dieser ganzen Situation, an dieser ganzen Geschichte war jemals lustig gewesen. Aber genau deshalb entkam es ihm, dieses makabere Geräusch - weil er zu irgendetwas anderem gerade einfach nicht fähig war.
"Why? How?", wiederholte er leise, das Zittern in seiner Stimme konkurrierte mit dem des Blauhaarigen. Er öffnete den Mund, um zu einer Antwort anzusetzen - schloss ihn dann aber wieder. Immerhin hatte er das Thema ja angesprochen, da er es Luke schuldig gewesen war. Da er ihn nicht länger anlügen wollte. Da er die Wahrheit wissen musste. Da.. verdiente er auch, dass der Russe ein wenig über die passende Antwort nachdachte, nicht? Also.. wieso? Und wie?
Der Kopf des Schwarzhaarigen wand sich ein kleines Stück zur Seite, seine grauen Iriden folgten dessen Weg und huschten in die rechte obere Ecke. Nachdenken.. darüber, weshalb er Melchior umgebracht hatte, huh..? Das war.. schwierig. Der Junge hatte oft Probleme sich an Dinge zu erinnern, welche in weiter Entfernung lagen. Er wusste, dass sie passiert waren - wusste, dass er Melchior geschubst, dass der kleine Junge gefallen war. Erinnerte sich noch vage bildlich an diese Szenerie. Erinnerte sich aber mehr an die Tage darauf, an den Tag von dessen Beerdigung. Es war einfacher für den Punk die Gefühle zu fühlen, die mit den vagen, mit den fehlenden Erinnerungen zu tun hatten. Die Gefühle, die aufkamen, wenn er an Melchior und dessen Tod dachte. "I.. pushed him down the stairs.. In school.. When.. we were kids.", erklärte er nach einer Weile, jedes Wort entkam ihm zögerlich und er brauchte lange, um die richtigen zu wählen. Ein wenig vergaß er, wo er sich gerade befand. Die Umgebung um ihn herum.. sie erschien unwirklich. Er beachtete sie sowieso nicht wirklich. Starrte zur Seite, starrte in seine Gedanken, doch beides schien leer. Nicht da. Nicht wirklich. Alles war verschwommen.. und der Halbrusse hatte große Probleme, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Je mehr er es versuchte, desto mehr schien ihm die Realität, die Umgebung zu entgleiten. "And.. I did that..", fuhr er fort, seine Augenbrauen verengten sich ein wenig beim sprechen. Gefühle. Gefühle konnte er besser greifen. Das war einfacher. Weniger riskant. Einfacher. Nichts war einfach. Das Gefühl, welches er verspürte, welches das Alles erklärte.. ".. because I fucking hated him. I hated Melchior. He should have never been born." .. Hass. Das Gefühl, welches alles erklärte. Es war so einfach, nicht? Die Tränen hatten aufgehört zu fließen. Schon seitdem Kyle angefangen hatte zu sprechen. Ihm war schlecht, ein wenig zumindest. Wahrscheinlich war ihm sehr, sehr schlecht. Aber das Gefühl, es fühlte sich weit entfernt an. So wie alles. Ein heiseres, kurzes Auflachen. Er wirkte abwesend. Ein wenig, als ob er zu sich selbst sprach, nicht zu seinem Gegenüber. Seine linke Hand war wie automatisch zu seiner linken Körperhälfte gewandert, dort, wo sich die vielen verschieden großen Narben befanden. Stimmt ja, die Erinnerung ging ja weiter. "And afterwards I tried to kill myself."
Huh? Wait. Kyles Gesichtsausdruck veränderte sich minimal. Da war etwas durcheinander gekommen. Das stimmte so nicht. Das musste er richtig stellen. Er wollte Luke doch die Wahrheit sagen, nicht? Er war so verdammt unkonzentriert. "No.. sorry. Scrap that." Wo war Luke überhaupt? Die grauen Augen wanderten durch den Raum, fanden ihren Gegenüber und blieben wieder auf diesem hängen. Versuchten sich vehement auf diesen zu konzentrieren, sich an diesen zu heften, suchten nach dem Halt, welchen der Blauhaarige doch sonst so symbolisierte. "That was.. later. A.. month.. ago?" So stimmte das, nicht? Wieso kamen ihm mit einem Mal wieder Tränen? It wasn't such a big deal, right? Immerhin hatte er, als er über Melchior gesprochen hatte doch auch nicht geweint. Das machte keinen Sinn. Das war.. evil. Egoistisch. Ihm war schwindelig. Er war müde. Erschöpft. Er konnte sich immer noch nicht richtig auf das Gesicht und noch viel weniger auf die honiggelben Augen vor sich konzentrieren. Wo war der Hass nun eigentlich hin? War er nicht besser, als diese ständige, plötzliche Angst, welche nun wieder hoch kam? Dieses Zittern, welches einfach nicht aufhören wollte? Er wollte am liebsten wegrennen. Aber er wusste nicht, wohin. Wusste nicht, wovor. Und.. wegrennen ging doch nicht. Immerhin war Luke hier, nicht irgendwo sonst? Oh. Und er hatte ihr Fluchtfahrzeug ja mitten in einen Baum hinein gefahren. Unglücklich.