[Cedric] & Alessa
'Du warst ja nicht da!'
Ihre Wut prallte mit aller Heftigkeit gegen seine Schwermut.
'Niemand war das!'
Er musste da durch. Aushalten. Annehmen. Verstehen. Auf dass es vielleicht irgendwann in seinen verdammten Schädel reinging, dass es tatsächlich Leute gab, denen er nicht egal war. Die ihn - sofern Alessa's Worte wirklich der Wahrheit entsprachen - gar brauchten. Es war absurd.
Ichkanndasnichtichkanndasnichtkanndasnichtkanndasnichtkanndasni-
Du musst. Da. Durch.
Cedric versuchte, sich auf seine Atmung zu konzentrieren. Eins. Nach dem anderen.
'Ich hätte euch gebraucht.' Gebraucht.
Es machte keinen Sinn. Wieso hätte sie ihn brauchen sollen? Wer war er schon?
Ich bin ihr vermaledeiter großer Bruder.
Ah, scheiße. Als Familie waren sie wirklich ausgesprochen unfähig, nicht wahr? Er hätte es besser machen müssen. Er hätte so vieles besser machen müssen.
Sie war die Jüngste, die Kleine, sie hätte nicht dasselbe durchmachen sollen, es auf keinen Fall dürfen, wie ihre größeren Brüder. Reichte schon wenn sie verkorkst waren.
Wie sollte er ihr nur sagen, dass es nicht seine Absicht gewesen war? Machte das überhaupt einen Unterschied?
Denn auch für ihn war niemand da gewesen. Die zähflüssigen Tage, die sich in reiner Sinnlosigkeit aneinander schmiegten. Die guten, an denen er zumindest mal das Bett verlassen hatte, die schlechten an denen er es nicht tat. Er hatte sich so von allen, die ihm mal was bedeutet hatten distanziert, sodass es niemanden kümmerte, gar auffiel, was mit ihm los war. Daher konnte er niemanden einen Vorwurf machen, außer sich selbst. Aber Alessa - sie hatte es versucht. Die Hand ausgestreckt. So viel mehr getan als er selbst und war doch ignoriert worden. Sein Herz zog sich bei dem Gedanken zusammen. Er konnte sich in etwa ausmalen, wie es ihr erging und dieses Gefühl war absolut beschissen. Wie konnte er ihr nur erklären, dass es ihm schlichtweg an Kraft gefehlt hatte, dass er sie nicht hatte hören können? Wie auch sonst niemanden? Er verstand sich ja selbst nicht. Was fehlte ihm denn schon?
'Ced? Du kriegst das hin. Du hast jetzt schon mehr hingekriegt, als du von dir gedacht hättest.'
Nun, er hatte eine neue Chance bekommen, nicht? Also wollte er bleiben. Den Versuch wagen, wieder zusammen zu kitten, was auseinander gebrochen war. Cedric sah wie seine Schwester die Tränen wegblinzelte, ihn überrascht ansah.
Sie weint wegen dir. Denkst du immer noch, das war eine gute Idee herzukommen?
Hätte ich sie besser in Ruhe gelassen.
Stillschweigend musterte sie ihn, als wägte sie ab, wie vertrauensselig diese Äußerung von ihm war. Er hatte ihr Vertrauen immerhin schon einmal gebrochen.
"Nur wenn du das möchtest." Er konnte die Unsicherheit nicht aus seiner Stimme verbannen. Wollte sie? War es nur falsches Pflichtbewusstsein? Er hatte keine Ahnung. Ced hatte das Gefühl gerade auf Messers Schneide zu balancieren. Alessa zuckte zur Antwort darauf nur mit den Schultern, wollte sich nichts anmerken lassen. Nicht besonders einladend, aber auch keine Ablehnung. So gerne würde er sie einfach einmal in die Arme ziehen, diesen Abstand verringern, seiner Schwester wieder näher sein. Aber er fühlte sich unbeholfen in seinem Körper und die Sorge Grenzen zu überschreiten hemmte ihn zusätzlich. Würde sich das je wieder normal anfühlen? Oder musste er-
Es ist auch dein Zuhause.
Er blinzelte, geriet ins Stocken. Was in seiner Anspannung vermutlich gar nicht weiter auffiel. Sein... Zuhause? Das war keine kleine Sache. Im Gegenteil. Er hatte sich eigentlich nie so richtig irgendwo zu Hause gefühlt. Und im Moment fühlte er sich so verloren, dass diese Aussage fast wie ein Anker wirkte. Eine Einladung. Vielleicht auch ein Schritt, den seine Schwester gerade bereit war auf ihn zuzugehen.
"Meinst du das ernst?", fragte er vorsichtig. Er blickte gequält drein. "Denn ehrlich gesagt würde ich ein Zuhause sehr zu schätzen wissen." Ein Zuhause, das war mehr als nur ein reiner Zufluchtsort. Konnte es das werden, für sie beide? Verlangte er ihr nicht gerade viel zu viel ab? Cedric verstummte, presste die Lippen kurz zusammen. Ehrlichkeit? Vielleicht musste er da auch einen Schritt auf sie zugehen. Sein Blick glitt durch den Raum, ehe er den Kopf wieder zu ihr drehte, vage in ihre Richtung blickte. "Ich weiß nämlich gerade nicht wohin mit mir." So sah es nämlich aus. Er wollte das mit Alessa gerade biegen, ja, aber der Grund seines Kommens lag in erster Linie darin begründet, dass das hier den einzigen Ort darstellte, der ihm in seiner Situation jetzt eingefallen war. Erbärmlich. Wo sollte man auch anfangen, wenn vor einem ein einziger Scherbenhaufen lag? Wenn man sein Leben bereits weggeworfen hatte?