Luke & Kyle
Kenny, mit einem großflächigen, roten Handabdruck auf seiner runden Wange. Kenny, wie er auf der gegenüberliegenden Seite der Straße winkt und hüpft, ein erfreuter Blick in seinem Gesicht. Kenny, weinend auf dem Sofa, mit dem Rücken zu ihm gekehrt. Kenny, strahlende Augen, während er die Kerzen auf dem wahrscheinlich hässlichsten Geburtstagskuchen auspustete. Die Bilder durchfluteten seinen Kopf mit jedem weiteren Wort, das Kyles Mund entkam. Die Realität verschwamm mit seinen Gedanken, er war sich nicht mehr sicher, was er vor sich sah. Er liebte ihn doch so sehr, war das nicht genug? Sollten die Bilder nicht begleitet sein von seinem Lachen, von seiner Stimme? Wieso hörte er sie nicht mehr? Hatte er schon vergessen, wie er geklungen hatte? Liebe allein war nie genug. Er war so machtlos gegenüber seinem eigenen Schicksal, er war so schwach. Lukes gesamter Körper zog sich zusammen, als hätte ihn die stechende Kälte von draußen erfasst, doch dabei saß er eigentlich nur hier... mit ihm. Ah, er. Der Grund, warum er überhaupt hier war. Warum er überhaupt wieder ein Dach über dem Kopf hatte und die Wärme genießen konnte. Und doch war es so verdammt kalt.
Mit viel Druck rieben seine flachen Handflächen über seine Augen. Wenn er hart und lange genug rieb, würde sich das Bild sicherlich ändern, oder? Wenn er gleich die Augen aufmachte, dann wäre alles einfach wieder gut. Dann wären er und seine am meist geliebtesten Menschen hier. Sie wären 14 und ihnen wäre noch nie etwas Schlimmes passiert. Seine schweren Augenlider öffneten sich, die Haut leicht gerötet von der konstanten Reibung und erblickten wenigstens einen dieser Personen, die hier hätten sitzen sollen. Kyle. Kyle... Kyle! Es ging um Kyle, war das nicht offensichtlich? Ein Hauch von Scham wanderte durch seinen Körper, er ekelte sich schon fast vor sich selbst. Es ging nie um seine eigene, traumatische Vergangenheit oder Kenny oder sonst irgendwas. Trotzdem hatte er ständig an seinen kleinen Bruder gedacht, sich um seine eigenen Gefühle in dem Moment gesorgt, anstatt seinem älteren Bruder beizustehen. Wie egoistisch. Dass seine Hände sich in seinen eigenen Haaren verfangen und sich an diesen fast schon festkrallten, war ihm nicht aufgefallen. Seine Augen fielen auf Kyles Gesicht, welches genau so wenig anwesend schien, wie er selbst nur wenige Sekunden zuvor. Krampfhaft versuchte er auf seine Fragen zu antworten, ihm irgendeine befriedigende Auskunft über seine Vergangenheit zu geben. Er erlebte das Geschehene sicherlich gerade erneut, nur auf Lukes Wunsch hin. Er zwang ihn durch diese Tortur, weil er Luke liebte und Angst hatte. Oder nicht? Warum sagte er ihm das jetzt alles? Warum hatte er es ihm vorher nie gesagt? Weil er ihn liebte? Weil er geliebt werden wollte? Adfsjkghfgjkwgrhtidsfkljghfgwjek.
Er wollte laut aufschreien, seinen Kopf von dem Wirrwarr befreien. Er wollte alles verstehen, gleichzeitig aber auch von nichts wissen. Kyle hatte Melchior gehasst, sagte er? Auf eine Art und Weise hatte er ihm Antworten gegeben, doch im Grunde bildeten sich nur noch mehr Fragen. Fragen, die er nicht stellen sollte. Kyles Anblick verriet dem Blauhaarigen, dass er am Ende seiner Kräfte war. Wo sollte er jetzt anfangen, wohin würde sein Geständnis die beiden nun bringen? Wo- "Was?" Seine Stimme war plötzlich so klar und bestimmend, als wäre er nie Teil des Gespräches davor gewesen, unbeeinflusst von den kürzlichen Sätzen und Emotionen. Sein Körper schnellte ruckartig nach oben und verließ seine zusammengekauerte Position. Stattdessen befand der Teenager sich auf den Knien, wo nur wenige Zentimeter ihn und den Älteren trennten. "A month ago? You fucking tried to kill yourself?" Die steigernde Lautstärke seiner Stimme veränderte die Atmosphäre um sie herum, es wirkte so viel belebter als in den bedrückenden Sekunden zuvor. "Kyle... No." Mit einer Bewegung griff seine rechte Hand nach dem Kragen seines Gegenübers und zog ihn mit einem Ruck an sich, sodass dieser halb auf dem Boden, halb auf ihm selbst landete. "No, no, no, no, no, no." Seine Mimik war eine Mischung aus purer Verzweiflung und Wut. Seine hellen Augen loderten und sein Atem war ohne Zweifel auf der Haut des anderen zu spüren. Diese Wut war nicht Kyle gewidmet. Nein, sie gehörte ganz allein Luke. Alles, was er davor gesagt hatte, war wie vergessen, es war ihm alles andere als wichtig. Ihre Augen trafen sich für mehrere Sekunden, ihre Körper fühlten sich wie Magneten an, doch der Amerikaner war sich nicht sicher ob sie sich gerade anzogen oder abstießen. Sein Griff hielt ihn immer noch fest an sich gezogen. "Kyle, I..." Die richtigen Worte wollten ihm nicht einfallen. Es wäre schön, wenn ihm überhaupt Worte einfallen würden! Sein Atem verschnellerte sich und er spürte die warme Flüssigkeit, wie sie sich langsam aber sicher in seinen Augen ansammelte. Weitere Momente der Stille folgten und als die erste Träne voll genug war, um seine Wange hinunterzurollen, riss er den Körper seines besten Freundes mit solcher Wucht an sich, dass es fast schon weh tat. Schluchzen entkam seiner Kehle, völlig unkontrolliert und die Nässe seiner Tränen weichte durch die Klamotten durch und gelangte an seine Schulter, in welcher Lukes Gesicht vergraben war. Er war so froh, dass Kyle hier war. Er war noch hier, er war bei ihm! Und das, obwohl Luke gegangen war. Er hatte ihn im Stich gelassen, nicht? Es kam alles in ihm hoch. Die Schuldgefühle, gepaart mit der Übelkeit der Wahrheit der Dinge. Abrupt stieß er Kyle von sich und sprang auf. Panik breitete sich sichtbar in seinem Körper aus. Sein Kopf drehte sich in alle Richtungen, war sich nicht ganz sicher wonach er überhaupt suchte. Ein Fluchtweg? Nein, er wollte und konnte Kyle nicht wieder alleine lassen. Oh mein Gott.
Schließlich stoppten die honiggelben Augen bei der Balkontür, welche er in kürzester Zeit erreichte und aufriss. Der Wind war genau so unbarmherzig wie das Leben zu ihnen gewesen ist und verwehte seine ohnehin schon chaotischen Haare. Seine Beine trugen ihn an den Rand des Balkons, wo sich seine Hände um die Reling klammerten. Sein Gesicht starrte auf den Boden unter ihm, welcher zugegebenermaßen nicht allzu tief entfernt war. Und es kam alles hoch. Sein Körper zog sich erneut zusammen, dieses Mal aber um seinen gesamten Mageninhalt seinen Hals hochwandern und schließlich auskotzen zu lassen. Wäre es nicht so schön und so einfach gewesen, wenn man all das Schlechte, was man in sich trug, einfach so ausstoßen könnte? Er wünschte gerade so sehr, dass er alles rückgängig machen könnte. Wieso machte er den selben Fehler jedes mal, ohne dazu zu lernen? Ein Nichtsnutz war er. "Kyle, I am so fucking sorry th-" Sein Mageninhalt kündigte sich wieder an und unterbrach ihn. Wie lächerlich, nicht einmal eine vernünftige Entschuldigung ließ seine sterbliche Hülle zu.