[Cedric] & Alice
Die Violine geschultert, stand Cedric nach wie vor unbeweglich am Campushof. Geh, forderte er sich selbst auf. Geh einfach. Doch er bewegte sich nicht. Konnte nicht, wollte nicht. Nicht wirklich jedenfalls. Dabei war es doch das einzige Logische, oder nicht? Es machte keinen Sinn hier stehen zu bleiben und noch weniger Sinn machte es, dass er das zwar begriff, aber dennoch nichts dagegen tat. Zu tun vermochte. Was war nur mit ihm los? Er hörte eine Stimme, jemand der seinen Namen rief. Ausgeschlossen. Wer würde das jetzt noch tun, nach allem...? Er kannte diese Stimme, er wusste das und doch brauchte es bis zu dem Moment, als die Person ihre goldenes Haar nach hinten streifte, bis sich das Bild zusammenfügte. Alice. Alice war hier. Aber... wieso? "Ich freue mich auch dich zu sehen.", entgegnete er, weil es angebracht erschien, noch immer verblüfft über ihre plötzliche Anwesenheit. Dennoch, auch wenn er dies so sagte, das Gefühl 'Freude' vermochte nicht recht zu ihm durch zu dringen. Dabei war ihm Alice ihm doch wichtig, sie war Teil seiner Familie, nicht wahr? Wobei Familie in seinem Leben schon immer ein recht fragiles Konstrukt gewesen war. Simon meldete sich nicht zurück, wo Alessa sich umtrieb vermochte er noch weniger zu sagen. Und alles was über seine Geschwister hinausging, waren sowieso nicht mehr also nur noch lose Kontakte. Moment... schloss das Alice nun mitein? Er schüttelte den Gedanken ab, als wäre er eine lästige Fliege - was für ein Unsinn. "Furchtbar? Ich finde heute ist ein verhältnismäßig guter Tag.", entgegnete er, die leichte Ironie unverkennbar, wenngleich sie so verdeckte, wie viel Wahrheit in diesem Satz steckte. Immerhin. Heute war er hier. Draußen. Offenbar sogar am sozialisieren. Das war definitiv gut und weniger furchtbar als sonst. Oder zumindest wollte er daran glauben und das gelang ihm auch ziemlich gut. Alice umfasste seine Schulter und obwohl er es nicht wollte, ließ ihn die Berührung kurz unmerklich zusammenzucken. Als wäre er derartige Zuneigung nicht mehr gewohnt. Doch was sollte diese Abwehrhaltung? Unsinn. Alles Unsinn, so wie alljenes, was er diese Tage fabrizierte. Alice suchte seinen Blick und er wollte ihn entgegnen, mit einem Lächeln im Gesicht, ganz gleich wie gekünstelt, doch es gelang ihm nicht. Das Rot ihrer Augen erinnerte ihn nur an eines - oder besser gesagt an jemanden. Noita. Wie sie weinte, wie er sie zum Weinen gebracht hatte. Noita, wie sie davonlief, weglief, weg vor ihm. Wie könnte er es ihr verdenken? Was sie in diesem Moment wohl tat? Wie es ihr ging, diese Frage ersparte er sich, daran wollte er nicht denken. Es schlimmer statt besser gemacht zu haben, diese Möglichkeit, die ihre verdammte Cousine ihm in den Kopf gepflanzt hatte, sie wollte nicht weichen. Wann war das überhaupt gewesen? Gestern? Vor einer Woche? Einem Monat? War Noita's weinendes Gesicht nun das einzige Bild seiner Erinnerung, dass sich ihm je wieder zeigen würde? Nun, das wäre nur recht. Was hätte er auch anderes verdient? Er wich Alice' Sicht nun aus, um so vielleicht auch die Geister zu vertreiben, die ihm umtrieben. Sein Blick senkte sich und so fiel ihm erst jetzt auf, was sie trug - und was sie darunter verbarg. Scheiße. Wie um Himmels Willen hatte er das vergessen können? Alice war schwanger. Sie wurde Mutter, sein Zwilling Vater und er selbst zum Onkel. Er hatte keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Nicht seitdem er den beiden das letzte mal geschrieben hatte. Er konnte sich nicht einmal entsinnen, eine Antwort erhalten zu haben oder nicht. Sie zu ignorieren, das würde nur allzugut in sein derzeitiges Schema passen. Verdammte scheiße. Wie geht es dir? Die Frage wollte er stellen, doch was stattdessen über seine Lippen kam war etwas völlig anderes: "Dein Haar wird nass." Absolute Vermeidungsstrategie? Er wusste selbst nicht, was das sollte. Wenn er so darüber nachdachte, machte es aber nun wirklich wenig Sinn, dass sie die Kapuze abgestreift hatte, wo doch der Niesel ständig auf sie einprasselte, sanft und umsichtig, fast als wollte er, dass sie nicht vor ihm flohen. Er wollte die eigentliche Frage noch stellen, wirklich. Die Tatsache jedoch noch einen Moment zu übergehen, erschien jedoch so leicht, so einfach, so angenehm im Vergleich. Wie so oft.