Das kleine Häuschen lag still zwischen all den anderen inmitten einer friedlichen, gesitteten Anlegerschaft. Ihr gemeinsames, trautes Heim. Er hatte dieses Viertel schon immer gehasst, die ruhige Straße, in der kaum ein Auto vorbei fuhr, die zugeschnittenen Bäume, alle auf Gleichnis getrimmt, die Nachbarn, welche stolz mit ihren Vorurteilen und ihrer Arroganz hausieren gingen – verpackt in heuchlerischer Höflichkeit. Ah, was machte er hier? Was machten sie hier? So tun, als passten sie hier rein, in diese Straße, diese Nachbarschaft, ein glückliches Paar mit einer kleinen, süßen Tochter? Oder was? Das ich nicht lache. Sesshaft werden. Er hatte es wirklich versucht, nicht wahr? Ihr zuliebe. Nein. Er hatte sich selbst beweisen wollen, dass er es konnte, wenn er es nur wollte, dass er in der Lage war, sich zu ändern, das Gegenteil zu werden von dem, was seine Eltern gewesen waren. Nicht so zu sein wie er. Immerhin, er hatte jetzt eine Tochter. Wie alt war sie mittlerweile eigentlich?
Marlin wandte den Blick von der Straße ab, ging zum Kühlschrank und köpfte sich ein Bier, ehe er sich einen Stuhl heranzog. Mia war nicht da. Natürlich war sie es nicht, genau deshalb war er ja jetzt zurück gekommen. Er fürchtete, wenn er sie noch einmal sehen – sich noch einmal mit ihr streiten, sie noch einmal vögeln würde – würde er seine Entscheidung noch einmal in Frage stellen. Allein das er ein Wanken in Betracht zog, gab ihm zu Denken – nein, machte ihn wütend und zwar auf sich selbst. Hatte er sich schon so lange auf diese liebliche Idylle eingelassen, dass er ohne Mia nicht mehr konnte? Das war absurd. Ganz und gar lächerlich. Es war die Abhängigkeit die er ablehnte, die er regelrecht verabscheute. Seine Mutter, die von seinem Vater abhängig gewesen war, so sehr, dass sie alles mit sich machen ließ. Er selbst, als Kind, der so völlig von seiner Mutter abhing. Er durfte nicht zu lassen, dass Mia eine derartige Person für ihn wurde. Er hasste sie. Daran musste er sich erinnern. An ihre nervige Art, ihren Dummkopf, ihre streitsüchtige Ader, ihr Besitzergreifen. Weshalb nur gelang es ihm diesmal so schlecht, die Worte wirklich anzunehmen, tatsächlich daran zu glauben? Er hatte doch sonst kein Problem damit. Es reicht. Mia hatte sich immer fester an ihn geklammert, die Schlinge immer enger gezogen. Es war nicht das Kind, welches ihn für immer an sie band, es war alles an ihr, das was er nicht verstehen, so auch nicht loslassen konnte. Was war es? Wie hatte es je dazu kommen können?
Marlin knallte die halbleere Bierflasche auf den Tisch. Ganz egal was es war, er hatte eine Lösung für dieses Problem. Er hatte genug von dem Leben hier, dieser Scheinwelt, die so verkehrt, so fatal wirkte. Das Leben eines Hypokriten – waren es nicht solche, die er sowieso nicht ausstehen konnte? Naja, am Ende hatte Marlin sich selbst auch nie besonders leiden können – es war der beste Charakterzug den er hatte.
Er schob den Stuhl nach hinten, stand auf, griff nach der Bierflasche und ging schließlich die Treppe nach oben. Die meisten seiner Sachen befanden sich verstreut hier zwischen den Zimmern, ein alter Rucksack müsste auch noch irgendwo sein. Trautes Heim, Glück allein. Ha – nicht für ihn, nein. Er fragte sich nicht zum ersten mal, warum dieses Haus – dieses kleine, hübsche Häuslein – so, nun, positiv wirkte. Er bezweifelte, dass Mia sich besonders gut darum kümmerte – oder täuschte er sich hier? Das Haus in dem er aufgewachsen war, hatte grau und schal dagegen gewirkt, eine schmutzige Bruchbude, in der Chaos einherzog und Unheil einen bei jedem Schritt verfolgte. Dunkelheit, die bereits in der Wurzel verwoben war. Das hier? Das war anders und er konnte sich nicht erklären, warum. Vielleicht war das der Grund, warum dieses hübsche Häuslein immer so verfälscht, so unecht, so gekünstelt auf ihn gewirkt hatte – bis zu einem Maße, dass es ihn krank machte. Ziemlich ironisch, nicht?
Nebenbei suchte Marlin seine Sachen zusammen, fand den alten, zerlumpten Rucksack und überlegte, was mitsollte. Das Bier leerte sich derweil unmerklich. Er stromerte von einem Zimmer zum nächsten und wieder zurück. Obwohl die Wohnung klein war, fanden sich unsäglich viele Sachen darin – die meisten von Mia. Oder ihrer Tochter. Den Unterschied ausmachen ließ sich eigentlich nur an Größe, wobei er bei den Kuscheltieren am Ende überhaupt nicht mehr sicher war, zu wem sie gehörten. Es war auch einerlei. Er kickte eines davon mit dem Fuß weg. Hört auf mich so vorwurfsvoll anzustarren., dachte er mit einem Schnauben. Bescheuert. Er schnürte den Rucksack gerade zu, als er unten plötzlich die Haustür hörte.
Scheiße.
Marlin schulterte den Rucksack, stellte die leere Bierflasche auf einer Kommode ab. Mia. Was machte sie schon zurück? Oder hatte er doch länger gebraucht, als gedacht? Zu sehr in Gedanken verloren gewesen, was?, zog ihn seine innere Stimme auf, doch er brachte sie unwirsch zum Schweigen. Es war offensichtlich, dass er hier gewesen war, wenn Mia das Chaos hier entdeckte. Anderseits war es nichts Neues. Er kam und ging wie es ihm beliebte, war schon oft tagelang oder gar wochenlang weg gewesen, ehe er wieder auftauchte. Mia würde nicht mit ihm rechnen, nicht jetzt schon, da er erst vor ein paar Tagen gegangen war.
Für einen kurzen Moment stand Marlin unentschieden oben am Treppengeländer. Was waren die Optionen? Sich verstecken, wie der Feigling, der er war? Rausschleichen? Oder ganz provokant die Treppe nach unten stolzieren und ihr direkt auf Nimmerwiedersehen sagen? Seine Mundwinkel zuckten bei der Idee. Mia's Gesichtsausdruck wäre preiswert. Würde sie zuerst heulen oder ihn zuerst anschreien? Ah, sich ihr Gezeter jetzt anhören zu müssen, darauf hatte er wirklich keine Lust. Er würde dann wohl mit einer Ausrede abhauen – und wiederkehren. Bist also doch abhängig von ihr, was?, flüsterte der Hohn und Marlin's Gesicht nahm einen wutverzerrten Ausdruck an, wenn ihn auch niemand sehen konnte. Er hasste es, weil die Aussage recht behielt, weil eben jene Wahrheit ihn jedoch anwiderte.
Geräusche von unten rissen ihn schließlich wieder aus seinen Gedanken. Er hörte Mia sprechen, verstand jedoch nicht was. Dann – fiel die Haustür wieder zu. Ein kurzer Moment der Stille trat ein. Marlin wartete ab – war sie etwa schon wieder gegangen? Sollte ihm tatsächlich ein derartiges Glück beschienen sein? Als er auch weiterhin nichts hörte, setzte er sich schließlich in Bewegung. Langsam und bedächtig, um keinen unnötigen Laut zu machen. Wie ein Einbrecher in seinem eigenen Haus. Aber das war er auch irgendwie. Hier hatte er sich schon immer wie ein Eindringling gefühlt.
Unten angekommen wähnte er sich bereits in Sicherheit, als die letzte Treppenstufe knarzte.
„Mama?“, hörte er eine Stimme. Die Stimme eines Kindes. Seines.
Tatsächlich lief im nächsten Moment das kleine Gör aus dem Wohnzimmer, stockte schließlich und sah ihn mit großen, unterschiedlichen Augen an. Was macht sie hier, verdammt nochmal?
Ihr hatte es wohl ein wenig die Sprache verschlagen, Teufel, er hatte wirklich keine Ahnung wie alt sie war. Oder wie zum Henker er mit ihr umzuspringen hatte. Marlin legte schließlich einen Finger an die Lippen und bedeutete ihr so einfach leise zu sein. Vielleicht konnte er dann so einfach durch die Hintertür verschwinden. Tara zu begegnen, nein, das hatte er nicht miteinkalkuliert. Er hatte sie ja zumeist gemieden – aus gutem Grund.
„Gehst du weg?“, fragte sie dann doch, den Blick musternd auf seinen großen Rucksack gerichtet, noch während Marlin nach einer Lösung suchte. Er ging nicht darauf ein.
„Sag deiner Mutter nicht, dass ich hier war.“, erklärte er, „Machst du das für mich?“
Das Kind blickte wieder zu ihm, sah ihn nur stumm an, ehe es langsam, doch eher unsicher nickte. So... und jetzt? Marlin sah widerstrebend zu dem Mädchen, rang sich schließlich dazu durch, ihr kurz die Hand auf den Kopf zu legen. Das... war doch eine belohnende Geste, oder? Doch ihm war eher, als würde er sich an ihr verbrennen, weswegen er die Hand auch sofort wieder zurückzog. In diesem Moment hörte er erneut, wie der Schlüssel in die Haustür gesteckt wurde. Mia war offenbar nur kurz nochmal etwas holen gegangen. Kurz drehten sich beide Köpfe zur Haustür um, doch Marlin wartete keinen Augenblick länger. Er schlüpfte durch den Flur nach hinten, durch die Hintertür Richtung Garten. Dort hielt er jedoch noch einmal inne, schielte durch den offenen Türspalt zurück in den Flur, sah Mia. Mia und Tara und dieses unglückselige Haus. Es hatte ihn schon immer gehasst, er passte nicht in dieses Bild und es war nicht die Art von beschissenen Leben, die ihm entsprach. Familie. Was war das überhaupt? Ein lächerliches Konstrukt von Schwächlingen, die von sich gegenseitig abhängig waren. Das hatte mit ihm noch nie recht funktioniert. Nun, es war den Versuch wert gewesen – nun hatte er sich bewiesen, dass es von Anfang an ein klägliches Unterfangen gewesen war. Es war einerlei. Er würde weiterziehen, diese Episode hinter sich lassen und nie zurückblicken.
Auf Nimmerwiedersehen, kleiner Wirbelwind., verabschiedete Marlin die Frau in Gedanken, ehe ein Lächeln seine Mundwinkel umspielte. Frei. Daran musste er denken. Keine Bindungen, nichts das ihn hielt. Den Schmerz, den er verspürte, ignorierte er schlichtweg, blickte nach vorne, raffte sich auf. Marlin stieg über den Gartenzaun und verschwand so vom Grundstück, aus der Nachbarschaft, aus Mia's Leben. Das glaubte er zumindest. Doch wie sehr er sich da täuschen würde, wurde ihm erst Jahre später bewusst.