[Antoinette] in Yuris Schneiderei
Nicht nur die Augen waren gerötet, sondern auch ihre Wangen, die brannten vor Scham. Hoffentlich konnte sie das mit ihrem Taschentuch einfach irgendwie mit verstecken. Ach! Aber die plötzliche Unterbrechung hatte sie erwischt. Damit hatte Antoinette schlicht nicht gerechnet - dass sie sich nicht entschuldigen musste. Gehörte sich das nicht so, wenn man jemand anderen Umstände bereitete? Es irritierte sie, aber gleichzeitig war sie darüber auch einfach erleichtert. So kam es, dass sie der Dame mit dem rosanen Haar hinterherstakste. Antoinette hielt sich auf Zehenspitzen in den hohen Schuhen, damit ihre Absätze nicht laut auf dem Boden klackerten. Sie wusste selbst nicht warum, aber das Geräusch käme ihr in diesem Moment falsch und aufdringlich vor und sie wollte sich lieber leise bewegen, so, als wäre sie gar nicht da. Aber das war sie, nicht? Übte sie sich nicht sonst darin, sich auf das Hier und Jetzt zu besinnen? Dennoch wünschte sie sich gerade am liebsten weit weg - oder hatte es zumindest bis zu dem Punkt, an dem die Schneiderin ihr bedeutet hatte eine Entschuldigung sei nicht notwendig. Als wäre alles irgendwie in Ordnung. Und so saß sie nun in diesem Büro einer quasi Fremden und hörte zu, wie das Wasser anfing zu kochen. Ihr Kopf wirkte wie in Watte gepackt. Sie konnte sich nicht recht konzentrieren und kaum hatte sie einen Gedanken gefangen, verlor sie ihn auch sogleich wieder. Sie fühlte sich nervös und verunsichert, weil sie sich in der Öffentlichkeit von einer solch verletzlichen Seite gezeigt hatte. Was sollte die Dame nur von ihr halten? Doch es schien sie nicht recht zu kümmern - stattdessen zeigte sie sich umgänglicher als sonst, was Antoinette nur mehr irritierte. Sie ließ ihre Hand mit dem Taschentuch langsam sinken, als ihre Tränen versiegten. In ihrem Kleid fühlte sie sich ein wenig wie in einem Kokon, weil es sich beim Sitzen so aufbauschte und so beobachtete sie verstohlen wie die Frau den Tee zubereitete. Sie war sogar noch kleiner als sie selbst es war und - Antoinette fiel in ihrem Watte umwölkten Kopf kein besseres Wort ein - irgendwie niedlich. Das war wohl das erste Mal seit ihren bisherigen, merkwürdigen Begegnungen, in dem sie die Schneiderin einfach einmal anblicken konnte. Doch der Moment war vorbei noch ehe sie sich wirklich ein Bild machen konnte, als diese sich umdrehte und nach ihren Teevorlieben fragte. "Oh.", machte Antoinette, ehe sie sich wieder fing, "Früchtetee bitte.", nuschelte sie und noch leiser "Danke." Ihre Wangen brannten. Sie hatte das Gefühl auf Kohlen zu spazieren, mit der Gefahr sich jeden Moment zu verbrennen. Sie wusste überhaupt nicht wie sie sich korrekt verhalten sollte. Was sollte sie sagen? Was war angemessen? Sollte sie sich erklären? Aber zu viel zu erzählen und es wäre aufdringlich. Sie wollte nicht als geschwätzig und jammernd rüber kommen. Aber wie wollte sie von dieser Person wahrgenommen werden? Diese Frau, bei deren ersten Begegnung sie eine unfassbar schlechte Figur abgegeben hatte? Und warum bot sie ihr jetzt Tee an, wo sie sie doch seither stets vermieden hatte? Hör auf.
Tee. Der Tee dampfte heiß in der Tasse, die sie nun in den Händen hielt. Sie sah hinab in die leuchtend rote Farbe des Wassers und vergaß für einen klitzekleinen Moment alles um sich herum. So war es auch nicht sie die das Wort ergriff, sondern die Schneiderin. Antoinette sah zu ihr auf und wäre sie selbst nicht so furchtbar angespannt und durch den Wind gewesen hätte sie über den Versprecher wohl gelächelt. Yuri also. Endlich hatte sie einen Namen. Schöner Name. Für einen Moment schien die Belgierin ihren Gemütszustand zu vergessen. "Mein Name ist Antoinette.", stellte sie sich vor. Etwas was schon seit sehr langer Zeit überfällig schien. Ihre Stimme erklang leise, so als traute sie dem noch nicht so ganz. "Danke nochmal für den Tee.", fügte sie an, um keine Stille aufkommen zu lassen, auch wenn sie sich wiederholte und auch wenn sie sich im nächsten Moment doch auferlegte. Der Tee war noch zu heiß um zu trinken. Was sollte sie sagen? "Kann ich dich etwas fragen?", rutschte es ihr dann über die Lippen, ohne das sie zuvor genau nachgedacht hatte, was genau sie vorhatte. Als wäre ihr Verstand vor lauter benebelten Gefühlen mittlerweile komplett abgeschaltet. Damit hätte sich auch die Frage der Höflichkeitsform erledigt. Auch wenn Antoinette wahrscheinlich mehr Leute siezte als duzte - das brachte die Tätigkeit in ihrem Laden irgendwie so mit sich - und sie das prinzipiell auch genoss, weil sie sich dadurch erwachsener und fähiger vorkam, würde es sich mit Yuri befremdlich anfühlen. Obwohl sie sie ja auch nicht wirklich kannte. Antoinette wandte den Blick ab und sah ganz gezielt in die entgegengesetzte Richtung, auch wenn diese Richtung einen recht unspektakulären Schrank beinhaltete. Sie hatte zu Wort angesetzt, jetzt musste sie es wohl irgendwie auch zu Ende bringen. "Warum... läufst du immer vor mir weg...?" Sie versuchte die Verzweiflung in ihrer Stimme zu unterdrücken. Sie kannte die Frau ja nicht einmal richtig, warum war das also so wichtig? Konnte ihr die ständige Ablehnung eines derart unschuldigen Geschöpfes nicht total egal sein? Das sollte es, nicht? Es sollte ihr egal sein was die Leute von ihr dachten und von ihr hielten und sie zeigte sich bewusst mit Rüschen, Schleifen und Spitze in der Öffentlichkeit, um genau das zu demonstrieren. Oder war es nichts weiter als eine unausgesprochene Lüge, die sie sich selbst erzählte? Eine Farce? Und wollte sie die Antwort auf ihre Frage überhaupt hören? Mit einem Mal wusste sie es nicht - wusste nicht ob sie die Wahrheit verkraften würde. Das sie nichts wert war. Das niemand etwas mit ihr zu tun haben wollte. Weil sie einfach nicht passte. Die Teetasse in ihren Händen zitterte kaum merklich und Antoinette wollte die Frage zurücknehmen, doch die blassen Lippen leicht geöffnet, brachten keinen weiteren Ton hervor.