[Cedric] & Alessa
Quietsch. Das nicht zu verkennende Geräusch eines bremsenden Fahrrads, ließ Cedric aufsehen. Er sah auf. Nein, es handelte sich nicht um seine Schwester, die gerade mit dem Fahrrad angeradelt kam (irgendwie hätte ihn das gewundert), sondern um einen Pizzaboten. Also war doch jemand zu Hause? Jepp. Da ging auch schon die Tür hinter ihm auf. Der Augenblick war gekommen. Cedric drehte sich im Sitzen nach hinten um und blickte zu seiner kleinen Schwester hoch. Wobei sie so klein nicht mehr war. Wann ist das nur passiert? Sein schlechtes Gewissen vergrößerte sich nur noch. Vor ihm stand fast schon eine Frau. Aber Kopf in den Sand stecken war gerade nicht drin. Ihre Blicke trafen sich. Er konnte nicht sehen, was sich in ihnen spiegeln mochte. Ablehnung? Wut? Oder doch Freude? Sein Herz klopfte schneller, zum einen weil er sich wirklich, wirklich freute seine Schwester zu sehen, zum anderen weil er genauso viel Angst davor hatte, sie möge ihn zum Teufel jagen. Wozu sie jedes Recht hatte. Ced stand auf, als sie sich wieder in Bewegung setzte, unschlüssig wie er Alessa begrüßten sollte. Wie viel Nähe war da noch zwischen ihnen? Und warum musste es mit einem Mal so kompliziert sein? Die Worte lagen ihm schwer auf der Zunge. Ihr Name oder einfach nur ein Hallo, für den Anfang. Doch der Kloß in seinem Hals war zu dick als dass auch nur irgend ein Laut seine Kehle verließ.
Der Pizzabote verschaffte ihm Zeit. Reiß dich zusammen. Verflucht, am liebsten hätte er sie in die Arme geschlossen, sie an sich gedrückt, zugegeben, dass er sie vermisst hatte. Aber er tat nichts davon. Es war Unsinn - und nebenbei vermutlich mehr als einmal Grenzüberschreitend. Stattdessen also schloss er lediglich die Augen, versuchte krampfhaft die Ruhe zu bewahren. Es würde sich regeln. Keine Panik. Seine Gedanken schossen schon wieder in eine fiktive Zukunft. Wenn Alessa ihn nun ablehnte, ihm die Tür verwehrte, wo sollte dann hin? Und wie sollte er das dann wieder gerade biegen? Wo sollte er mit dem gerade biegen seiner Beziehungen überhaupt anfangen? Die zu seiner Schwester war ja nicht die Einzige, die er gekappt hatte. Er hatte sie alle gekappt. Nur um jetzt mit nichts dazustehen. Ich bin allein. Er hatte das gar nicht anders verdient. Wieso sollte sie auch ihre Zeit mit ihm verschwenden, nur weil sie Geschwister waren? Das war lächerlich. Insbesondere wenn man ihre verquere Familiengeschichte ansah. Familie. Was war das schon?
Hör auf.
Alessa nahm die Pizza entgegen und der Lieferkurier schwang sich wieder auf sein Fahrrad. Cedric stand schließlich auf, war ihr zugewandt, bereit etwas zu sagen, irgendwas, bevor sie ihm die Tür vor der Nase zu knallte. Seine Schwester sah ihn abwartend an. Da war eine Zurückhaltung in ihrem Verhalten, die ihm neu war, die er ihr jedoch kaum verdenken konnte. 'Kommst du...?' Sein Magen machte eine Kehrtwende. Ein klitzekleiner Stein fiel ihm vom Herzen. Er bekam eine Chance. Er hatte es vermutlich nicht verdient, aber er bekam eine Chance. Die Anspannung hielt ihn dennoch weiterhin fest im Griff. Es stand einfach so vieles zwischen ihnen. Doch für's Erste nickte Cedric nur und folgte Alessa ins Haus hinein. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, der Geruch von Pizza lag in der Luft. Zögerlich blieb er hinter seiner Schwester, presste die Lippen aufeinander. "Tut mir leid, dass ich mit einem Mal vor deiner Haustür auftauche.", kam es schließlich - endlich - aus ihm hervor. Dann, Pause. Nichts. Wie sollte das bloß noch werden? Wo zum Teufel sollte er anfangen? Seine Hände wurden schwitzig. "Wie... geht's dir?" Oh Gott, wie banal einfach. Konnte er nicht einmal mehr ein Gespräch mit seiner Schwester führen? Er kam sich vor wie der letzte Heuchler - der er ja am Ende auch war. Immerhin hatte ihn nicht die Zuneigung zu Alessa her geführt, sondern die reine, eigene Verzweiflung. Vielleicht bin ich auch einfach nur ein selbstsüchtiger Mistkerl. Wie nah war dieser Gedankengang nur an der Wahrheit dran?