Tori 2 & Joe 2 | Schenke

Die Sonne begann sich bereits zu setzen, aber Tori bemerkte das kaum. Hochkonzentriert ging sie ihre Notizen durch und wog nacheinander die Zutaten ab, die sie für einen Trank brauchte, den sie ausprobieren wollte. Noch war die Sonne hell genug, dass sie keine Kerze brauchte. Kerzen... Kerzen waren ein Problem. Immer noch.
Die junge Maid war gerade dabei Weihwasser in passender Menge abzufüllen, als es kräftig an ihrer Tür klopfte. Vor lauter Schreck fiel ihr das Fläschchen aus der Hand und die Flüssigkeit verbreitete sich auf dem Boden. Oh nein! Sie kroch unter ihren Tisch um die Sachen aufzuheben, als Rita abrupt die Tür öffnete. So erschrak sie sich ein zweites mal und stieß mit dem Kopf gegen den Tisch. "Auauauau.", wimmerte sie leise, ehe sie unter dem Tisch hervorkroch. Das Weihwasser war vergeudet. Tori seufzte. Das war ihr insoweit nicht schlimm, als das es erstmal nichts anrichtete oder einsaute, aber das war ihr letzter Vorrat gewesen, also musste sie erst wieder zur Kapelle für Nachschub. Wie ärgerlich.
"Tori, ich brauche deine Hilfe. Der Ausschank beginnt und Elsje ist nirgens aufzufinden. Du musst mir an der Theke helfen."
Tori - immer noch am Boden knieend, riss entsetzt die Augen auf. "A-A-Aber Miss, Miss R-Rita, i-ich kann- ich kann w-wirklich n-n-nicht mit M-Menschen--", stammelte sie panisch, doch die Wirtin unterbrach sie.
"Ich hab bisher immer versucht Rücksicht auf dich zu nehmen und dir andere Aufgaben zugeteilt. Aber Eunice hat Urlaub und ist weg, Turner muss die Küche schmeißen, weil der Koch krank ist, Elsje ist nicht aufgetaucht, weiß der Geier wo sich das Mädchen rumtreibt, vielleicht ist sie irgendwo eingeschlafen und ich schaff den Ausschank mit meinem verletzten Arm nicht alleine. Du kannst dich nicht immer verkriechen, Kind."
Damit verließ Rita ihr Zimmer und ließ die Tür offen stehen, in selbstverständlicher Erwartung das Tori ihr gleich folgen würde.
Tori hingegen überlegte, ob das Fenster eine gute Fluchtoption gab.
Dummerweise lag ihr Zimmer im ersten Stock des Hauses und... naja... körperlich fit war nun keine ihrer Eigenschaften.
Sie kniete immer noch am Boden, schockstarr vor Entsetzen. Genauer genommen war sie nur weiter in sich zusammengesunken und gerade drauf und dran zu hyperventilieren. IchschaffdasnichtichschaffdasnichtichschaffdasnichtichwillnichtichwillnichtichwillnichtneinneinneinneinneinNEIN.
Ihr Herz raste, sie biss sich ungewollt in den Daumen um sich von der eigenen Hysterie abzulenken. Der Schmerz half ein wenig. Atme, Tori, Atme.
Krampfhaft versuchte sie sich zu beruhigen. 5 Dinge die ich sehen kann, 4 die ich spüren kann, 3 die ich hören kann, 2 die ich riechen kann, 1 die ich schmecken kann.
Den Tipp hatte sie aus einem Buch. Also los.
Sie sah ihr Bett, das Holz des alten Fußbodens, die offene Tür, die Kerze, die nicht brannte, die unzähligen Kräuter, die sie in ihrem Zimmer zum Trocknen aufgehängt hatte. Sie spürte den Boden unter sich, ihre Brille auf der Nase, den Stoff ihres weichen Kleides, den Druck auf ihrem Daumen, weil sie sich in den Finger gebissen hatte. Sie hörte ihr eigenes, pochendes Herz. Die Vögel, die draußen zwitscherten, die ersten Stimmen im Gastraum unten. Sie roch die Kräuter in ihrem Zimmer und der Duft von Eintopf der nach oben strömte. Sie schmeckte Blut an ihrer Zunge.
Spätestens da riss sie sich zusammen und schüttelte ihre Hand. Närrin. Sie wickelte etwas Stoff um ihren Daumen. Ihr Atem, ihr Herz, ihr Körper hatten sich wieder etwas beruhigt.
Du schaffst das. Du hast schon viel mehr geschafft, als du dir selbst zugetraut hast. Nicht ihre Worte. Seine. Aber sie trug sie tief in ihrem Inneren. Mut, von dem Mann, der ihr stets Mut schenkte.
Damit stand sie auf. Die Haare sowieso in Zöpfen, damit sie ihr nicht im Weg umgingen. Sie nahm noch drei Tränke aus ihrem kleinen Vorratsschrank und steckte sie tief in ihre Kleidtasche. Man konnte ja nie wissen, denn jetzt zog sie in den Kampf. Für sie war es das jedenfalls.
Tori schluckte, ehe sie zögerlich den Weg die Treppe runtermachte.
Tori betrat den Gastraum und stand damit direkt hinter den Tresen. Bisher war noch nicht viel los, immerhin. Hoffentlich würde das so bleiben. An der Theke selbst saß direkt ein Riese von einem Mann, mit furchteinflößendem Blick. Das Tempo ihres Herzens beschleunigte sich sofort wieder. Am liebsten wäre sie auf der Stelle umgedreht. Sie schluckte, ehe sie einen winzigen Schritt näher an die Bar machte. "H-Hallo.", begrüßte sie den Gast mit piepsig hoher Stimme. Für mehr war ihr Mund gerade nicht mehr in der Lage.