Bei Yumi
Sie triezte ihn mit ihrem Unglauben, ihrem Hinterfragen. Sowas konnte er nicht leiden, aber alas, hatte er es auch nicht notwendig, sich zu rechtfertigen. Sie konnte denken was sie wollte, es kümmerte ihn nicht. Am Ende musste er die Dinge - wie stets - mit sich selbst aushandeln, täglich auf's Neue. So war es, wenn es im Leben nie jemanden gegeben hatte, dem man sein Glück und Leid hatte teilen, sich anvertrauen konnte. Ein schräges Konzept. Marlin kannte es nicht anders und es war doch die Unabhängigkeit, die er so schätzte, dass er gar nicht vorhatte sich in dieser Hinsicht zu ändern. Er kramte in der Tüte nach dem Tabak, um sich erneut eine zu drehen. Mia war die Einzige gewesen, die er ein wenig an sich rangelassen hatte, aber am Ende hatte es auch nichts genützt.
Pech also, hm? Er schnaubte, seine Finger rollten in Ruhe die Zigarette zusammen. Pech war es, in die falsche Familie geboren zu werden. Pech war es, wenn du deinen Erzeugern egal warst, wenn sie dir den Rücken zukehrten und sich dir selbst überließen. Pech war es, wenn sie ihren Frust und ihren Hass an der Welt gewaltvoll an dir ausließen. Pech war es, Hunger und Armut gnadenlos ausgeliefert zu sein. Es gab unzählige Formen der Ungerechtigkeit und sie, diejenigen die davon verschont blieben, konnten es gar nicht verstehen. Ihr Blick blieb in gewisser Weise immer ungetrübt. Verachtung war alles, was Marlin dafür übrig hatte. Ihm schwante jedoch, nach ihrer Reaktion vorhin, dass die blonde Ex-Studentin, die so gerne die Drogen mit ihm teilte, ebenfalls vom Pech gezeichnet war. Andererseits würden sie sich nicht so unterhalten, wie sie es gerade taten.
Marlin stand schließlich auf, zündete die Zigarette an und steckte die freie Hand schließlich in die Jackentasche. Er hatte es nicht für nötig befunden, auf ihre vorherigen Aussagen einzugehen, nahm sich jedoch Zeit für diese. War er zufrieden? Tja. In der Regel verdrängte er diese Frage ganz bewusst.
"In gewisser Weise.", antwortete er schließlich. Es gab Wut und Hass, derer er nicht Herr wurde, die ihn stets begleiten würden, aufgrund dem was war, aufgrund dem wie diese Hölle an Welt beschaffen war. Er frönte im Negativen, was für Normalsterbliche unvorstellbar sein mochte und doch, was wäre er ohne? Marlin hatte sich seine Nische auf diesem Planeten geschaffen und so gesehen seinen Platz gefunden. In dieser Hinsicht war er durchaus zufrieden und er konnte sich keinen alternativen Lebensweg vorstellen, dass ihn nicht wahnsinniger machen würde.
"Versteh ich gut.", meinte er zwischen zwei Zügen, denn genau ebenjenes Gefühl hatte auch ihn begleitet. Bis er alle Bindungen gelöst und die Flucht ergriffen hatte. Hatte für ihn gut funktioniert. Keine Ahnung, was für sie funktionieren würde. Das musste sie wohl oder übel selbst herausfinden, aber Marlin bezweifelte, dass ein Rat von ihm hilfreich wäre, selbst wenn er einen hätte. Manipulation als Mittel der Wahl also, hm? So schützte sich jeder anders.
Charlie hatte die Zeit vergessen. Gedankenverloren tippte sie eine Nachricht nach Hause, dass sie erst jetzt den nächsten Bus nach Sternbach nehmen würde - was noch eine halbe Stunde hin war - und holte sich dann einen Bubble-Tea. Mit dem Getränk in der einen Hand, einer Tüte in der anderen und noch dem Schulrucksack auf den Schultern, ging sie durch die Innenstadt in Richtung Busbahnhof. Naja und was soll ich sagen, Riverport's Innenstadt war nun auch nicht so groß und der Brunnen schon ein gewisser Spot und Charlie war nun niemand der mit den Augen auf den Boden gerichtet durch die Stadt lief, ne. Trotzdem überraschte sie der Anblick, denn ihre große Schwester sah sie nicht alle Tage und zwar so sehr, dass sie sich an einen der Bubbles verschluckte und erst einmal in einem Hustanfall landete. Unbeirrt steuerte sie jedoch auf Yumi zu, die halbfreie Hand vor dem Mund haltend und dadurch bemerkte sie erst, als sie beim Brunnen stand, dass die Blondine wohl in ein Gespräch verwickelt war. Ups. "Hey Yumi.", begrüßte Charlie sie und wandte sich dann - ein wenig tränenverschleiernd aufgrund der Reaktion - ihrem Freund zu. "Und hey... äh..." Sie blinzelte und erkannte nun, dass der Kerl nicht nur viel älter war, sondern auch um einiges grimmiger drein guckte. Gruselig. "Du.", endete sie dann schlicht, da sie den Namen ja nicht kannte. "Lange nicht gesehen." Charlie bemerkte, wie sich der Mann neben ihr ungemütlich bewegte. Er lächelte, aber es wirkte ganz und gar nicht freundlich. "Bin gespannt was du erzählst, wenn wir uns das nächste mal austauschen." Ein Nicken in Yumis Richtung, während er sie mit einem seltsamen Blick musterte. Rauch schlug ihr entgegen, als er sich auf der Stelle umdrehte und in dem Trubel der Menschen auf den Straßen unterging. Fast wie ein Geist. Oder Dämon. Charlie sah ihm mit einer Mischung aus Verwunderung und Irritation nach, ehe sie sich zurück zu Yumi drehte, die noch am Brunnen saß. "Sorry. Ich hab ihn nicht verscheucht oder?" Vorausgesetzt, die beiden waren einander freundlich zugetan? "Oder hat er dich belästigt und es war gut, dass ich ihn verscheucht habe? Ich weiß nicht! Aber ich hab dich gesehen und konnte dich nicht einfach ignorieren." Immerhin sahen sie sich nicht besonders häufig. Das Verhältnis zu ihren älteren Geschwistern war... schwierig und Yumi hatte sich schon immer als recht unnahbar gegeben. Was Charlie unfassbar schade fand, immerhin waren sie trotz allem Schwestern. Deswegen konnte sie die Chance nicht einfach verstreichen lassen, das war doch nachvollziehbar, oder?