[Cedric] & Kyle
Noch standen sie im Flur. Noch war Zeit umzukehren.
Aber machen wir uns nichts draus. Wir haben schon mehr als einmal festgestellt, dass das von allen möglichen Dingen nicht passieren wird. Nicht nach allem was heute passiert ist.
Die Tür fiel also ins Schloss und Kyle betätigte den Lichtschalter. Zu seiner Überraschung wirkte es dadurch weniger, als würden sie noch in einem Flur stehen, sondern - mit ein wenig Fantasie vielleicht - unter... Sternenhimmel? Es würde nicht die erste Sache sein, die ihn in Verwunderung versetzte. Cedric hatte zugegebenermaßen keine Zeit gehabt um sich die mögliche Behausung seines Lebensretters vorzustellen. Nein, besser gesagt - er hatte keinen Kopf dafür gehabt, nicht einen nichtigen Gedanken daran verschwendet, ganz einfach weil es - pardon me - nicht wichtig war. Zumal er den Punk ja nur flüchtig kannte, wenn man so wollte. Dennoch musste eine gewisse Grunderwartung in seinem Unterbewusstsein geformt worden sein, denn sonst wäre er jetzt nicht überrascht. Es mag vorurteilsbehaftet sein, aber instinktiv hätte Ced eher auf eine schäbige, schlecht ausgestattete, chaotische Bude getippt, vielleicht mit dem Geruch von Rauch, Weed oder Alkohol versetzt. Nicht jedoch... naja, das. Schweigend war er seinem Gastgeber gefolgt und blieb abrupt im Türrahmen des Wohnzimmers stehen, während Kyle sich weiter in den großen Raum bewegte. Zu viele Dinge (die ihm überwiegend ein Rätsel aufgaben) erschlugen ihn förmlich, nicht weil es viel war, sondern weil es fremd war. Oh, und wegen: "... du besitzt einen Flügel?" Cedric schluckte. Langsam dämmerte es ihm. Er war ganz einfach tatsächlich gestorben. Kyle war sein persönlicher Todesgeist, der ihn abholen kam und ganz einfach in der Gestalt eines Punks erschienen war, um sich so möglichst in ein normales Weltbild zu fügen. Das würde das Gerede über die Bedeutung des Todes und die Esoterik erklären. Wenn er es auch mehr als einmal abgestritten haben mochte. Vielleicht wurde ihm einfach noch ein letztes Mal die schönen Dinge des Lebens vergönnt, bevor seine Seele sich ins Nichts zersetzte - oder was auch sonst nach dem Tod passierte. Wie freundlich. Anders konnte er sich das nicht erklären. Die sanfte Blase, in die er aufgefangen wurde im Angesichts des Schreckens. Die Tarotkarten auf dem Tisch, die sich sicherlich aus der Erinnerung von Antoinette's Legung in dieses Bild manifestierten. Und das Instrument, um ihm eine letzte Freude zu bereiten. (Das Schlagzeug ignorieren wir gekonnt, das interessiert hier niemanden.) Denn im ernst, welcher Normalsterbliche hatte denn einen fucking Flügel in einem überdimensionalen Wohnzimmer stehen?!
Normalsterblich war relativ. Vielleicht war der Gedanke eines bereits durchlebenden Todes für einen kurzen Augenblick durch seinen Kopf geschossen, aber seien wir ehrlich: dann würde sich Cedric anders fühlen. Es war diese ureigene Gewissheit, dieses Verständnis von Leben und wie es sich anfühlte, die ihm jegliche Illusion nahm. Illusionen, denen war er zwar ein einfaches Opfer, dennoch war diese hier keine davon. Und sollte sich der Tod nicht, nun, leichter anfühlen? War es nicht das, was sich jeder Selbstmörder, jede Selbstmörderin, insgeheim erhoffte, die sie dazu brachte, diesen grausamen, endlichen Weg zu beschreiten? Die Hoffnung, nicht auf Besserung, aber das es aufhörte. Nichts hatte hier je aufgehört, die Zeit war einfach weiter gerieselt, die Schwere in seinem Herzen wog noch genauso schwer. Nein, er war nicht tot und demnach war dies kein Phantasma, sondern die Realität. Wenn auch weitaus skurriler als erwartet. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre Cedric mehr als neidisch gewesen und hätte so einiges dafür gegeben, um dieses ganz und gar bildhübsche Piano einmal zu spielen. Doch Neid und Anerkennung gehörten zu den Luxusgefühlen, die gerade keinen Platz hatten. (Im ernst, ein Flügel!!)
"Sicher, dass das hier deine Wohnung ist?", setzte Cedric scherzhaft an. Der Anflug eines Witzes wohl auch nur, um gerade zu kompensieren, wo er sich befand. Hatte seine Tante diese Luxusvilla heimlich gesponsert? Vielleicht? Cedric hatte beim Sprechen den Blick vom Flügel abgewandt (und dem ganzen Rest natürlich auch) und an Kyle gerichtet, möglicherweise, um die Antwort in seinem Gesicht ablesen zu können, ob nicht allen Dingen zum trotz tatsächlich etwas an seiner Aussage dran war. Er sah noch, wie Kyle einen Zettel verschwinden ließ, während er ihm nebenbei etwas zu Essen anbot. Cedric blinzelte einen Moment irritiert, noch abgelenkt, vom Verhalten des Anderen. Doch er wollte nicht nachfragen - seine Vorstellung von Höflichkeit hatte er nach wie vor behalten und als fremder Gast fühlte er sich ganz automatisch wie eine Bürde (in dem Fall vielleicht noch mehr als normal), da war es in seinem Sinne jegliche zusätzliche Verlegenheiten zu vermeiden. (Neugierde war zudem noch nie eine seiner Eigenschaften gewesen - ganz zu meinem Leidwesen, ich will nämlich wissen was auf diesem vermaledeiten Zettel steht! chrm.) "Ähm.", kam es also nur über seine Lippen, nach wie vor ein wenig irritiert, schließlich von Kyles Hand wieder in sein Gesicht blicken. Ein kurzer Moment des Schweigens. Alles was ihm bei Kyle's Frage in den Kopf kam war buchstäblich die Erinnerung an seine letzte Mahlzeit - ergo dem Erbrochenem auf dem Dach. (Oh boy, we've been far from here) Vermutlich haftete ihn die glorreiche Mischung von Angstschweiß, Überreste seines Mageninhaltes, Tränen und Baustellendreck noch an. Anstatt Kyle also ein klares Ja oder Nein auf seine Frage zu geben, entgegnete Cedric bloß: "Ich... würde duschen gehen." Kurze Pause. "... kann ich mir was leihen...?" Ein Handtuch und Wechselklamotten waren nicht die dümmste Idee. Das mir dem Bad hatte Kyle immerhin angeboten, oder? Ganz sicher war er sich nicht mehr, aber hey, damit tat Ced ihm nur selbst einen Gefallen. Außerdem war es die perfekte Methode um der Situation zu entfliehen - was offensichtlich ein omnipräsenter Wunsch seinerseits war. Was sollte er auch machen? Cedric hatte ganz einfach keine Ahnung wie er mit der Gesamtlage umgehen sollte.