Nun, anscheinend war ihre Nachbarin nicht unbedingt an einem normalen Gespräch interessiert, Majo bemerkte, dass sie sie provozieren wollte. Mit jedem Wort wollte sie Majo dazu bringen, unfreundlich zu werden, ihre Kontrolle zu verlieren, sich gehen zu lassen. Doch das hatte die junge Hexe nicht vor – keiner hier wusste, was sie war. Und das würde so bleiben, niemals würde sie einer pinken Glitzerfee etwas über sich verraten. Und erst recht würde sie keinen Streit anfangen, nur, weil einem Mädchen langweilig war. Nein, Majo empfand das viel mehr als unwürdig, als nicht interessant genug. Sie hatte nichts gegen dieses Mädchen, sie wirkte nicht einmal unsympathisch auf sie, außerdem hatte sie gute Laune – war das nicht der Sinn einer Weihnachtsfeier? Sollten sie froh sein, dass Majo so war, wie sie jetzt war. Doch die kleine Miss ließ nicht locker, nein, sie trieb es immer weiter, wollte spielen, stupste sie – im übertragenen Sinne – immer weiter an, sodass ihr Geduldsfaden hoffentlich irgendwann riss. Selbst sie, als Nichte der vertrockneten Sherry, hatte sich unter Kontrolle. So einfach war es nicht, sie aus der Reserve zu locken, so einfach konnte man sie nicht tanzen lassen wie ein Püppchen, eine Marionette. Sie spielte ihre eigenen Spiele, nach ihren eigenen Regeln. Und nur manchmal ließ sie sich auf die der anderen ein.
Doch nun saß sie da, blickte auf die Nachos und entspannte sich weiterhin. Kein Grund zur Eile, kein Grund für Ärger. Sie wollte sich mit Majo eine Feindin machen? Dann erst recht nicht. Vielleicht würde Majo sie irgendwann kennenlernen, wenn sie nicht mehr so drauf war, nicht mehr soasozial und streitsüchtig, so provokant und widerlich beleidigend. Sie hätte sie bereits verhext, hätte sie Noita mit diesem Verhalten verletzt. Ihre Cousine hätte wohl die Welt nicht mehr verstanden. „Ich esse und trinke gerade, dabei muss ich mich gezwungenermaßen von meinen Gesprächspartnern abwenden“, entgegnete sie, wirkte allerdings nicht übermäßig unfreundlich. Wie zum Beweis legte sie den Nacho wieder ab, richtete sich auf, nahm die Schultern zurück und wandte sich dem Mädchen neben sich zu. „So besser?“ Ihr Blick traf auf den der Fremden, ihr Alter, allerdings ein ganz anderer Typ als Majo selbst.
Ihre Haare wirkten pink, waren gelockt, ihr Gesicht, ihre Kleidung, alles schrie geradezu danach, niedlich zu sein, süß, lieb. Nicht provokant, das ließ höchstens der Ausdruck ihrer Augen erahnen. Majos Augen mussten dagegen freundlich wirken – nicht, dass sie es war, doch zumindest beleidigte sie momentan keine Fremden, indem sie auf das Gewicht anspielte. Warum starrte sie ihr überhaupt auf das Essen? Setzte sich auf einen Platz neben ihr, wenn noch weitere frei waren? Fragen über Fragen, doch die Antworten interessierten Majo nur mäßig. Es gab wichtigere Dinge im Leben, zum Beispiel sich erneut ihrem Drink zuzuwenden und sich auch den letzten Schluck einzuverleiben. „Bediene dich, wenn du möchtest. Es war gratis.“ Sie schob ihr die Schale zu, blickte sie erneut an, dieses Mal deutlich länger und direkt in die Augen. Eine Weile hielt sie den Blickkontakt aufrecht, dann umspielte ein kurzes Grinsen ihre Lippen. Sie hatte keinen Appetit mehr, stattdessen meldete ihre Blase sich zu Wort – Majo solle sich doch bitte zur Toilette begeben, eventuell Lippenstift nachziehen und sich dann nach ihrem Wichtelopfer umsehen, stets in der Hoffnung, ihr Geschenk abladen zu können. Die Gesichter zu sehen, die Gestik, die Mimik, alles! Nur – wo war das arme Opferlamm? Wo nur, wo? Hatte es sich verirrt in dieser einsamen Stunde? Einsam und verlassen, niemals die Chance bekommend, das Geschenk zu öffnen? Oder war es nur die Angst, die es gepackt hatte? Die tiefsitzende, sich stetig schürende Angst vor dem Ungewissen? Doch egal, wie es kommen würde, Majo würde ihr Opfer finden und es zwingen, das Geschenk anzusehen, darauf zu reagieren. Nicht umsonst hatte sie sich wahrhaft Gedanken darüber gemacht.
Doch nun, mit erneutem und ebenso winzigem Grinsen, erhob die junge Hexe sich vom Barhocker und fuhr sich durch die Lockenpracht. „Entschuldige mich, ich habe noch etwas zu erledigen, unter anderem sollte mein Wichtelpartner demnächst hier auftauchen. Ich bin mir sicher, wir sehen uns wieder.“ Sie warf ihr Haar zurück, schnappte sich das Päckchen auf der Theke und ging mit stolzen Schritten in Richtung Toilette. Nun, ihr Getränk und die eindeutig zu kleine Blase meldeten sich weiterhin, sodass sie tatsächlich dringend etwas zu erledigen hatte.
Anschließend – die Toiletten der Bar waren erstaunlich sauber für einen solchen Ort – warf sie noch einen Blick in den Spiegel. Sie war nett anzusehen, wie immer. Und sie war das Mädchen losgeworden. Wäre doch gelacht, würde Majo sich austricksen lassen, niemals würde die Fremde ihre Reaktionen lenken können, nein. Tatsächlich war sie in gewisser Weise unberechenbar, obwohl all ihre Handlungen für sie selbst vollkommen logisch waren. Natürlich waren sie das, sonst würde sie schließlich auch anders handeln.
Kaum hatte sie ihre Haare gerichtet, sich noch einmal betrachtet, griff sie nach ihrer Tasche, in der sie das Geschenk verstaut hatte und ging erneut nach draußen. Der Lärm, der eben noch gedämpft worden war, schlug ihr erneut entgegen, die stickige Luft, verzweifelt versucht, ein wenig Weihnachtsatmosphäre in die Bar zu bringen, ließ die Übelkeit in ihr aufsteigen, die sie krampfhaft versuchte zu ignorieren. Aufgeben war nicht drin. Nein, Majo bekam ihren Willen. Und somit entschied sie sich, ein wenig durch die Menge zu stolzieren – in der Hoffnung, ihr Wichtelopfer irgendwo zu entdecken. Wenn es denn überhaupt schon da war.