Beiträge von Hazel

    Illuminator hatte schon immer eine komische Art gehabt jemanden um Hilfe zu bitten. Meistens wartete sie, bis derjenige alleine drauf kam. Ihr Stolz verbot es ihr zu fragen. Doch diesmal musste sie eine Ausnahme machen. Alleine schaffte sie es nicht das Stück Blech zu bergen. Ihre Kräfte hatten sie verlassen. Trotzdem würde sie erst Ruhe geben, wenn sie das Stück Blech - ein Teil ihres Babys - in ihren Händen hatte. So musste sie den Eindringling um Hilfe bitten. Die junge Frau biss sich auf die Unterlippe, als dieser sie auf das Wort "Bitte" ansprach. Lieber würde sie tot umfallen, als dieses Wort gegenüber ihm zu verwenden. Auch wenn ihrem Baby damit auch nicht geholfen wäre. Egal! Glücklicherweise brauchte sie den Eindringling nicht zu bitten. Wirklich zu bitten. Er handelte schon. Oder? Machte er bald mal was? Illuminator wollte schon quengeln, als plötzlich eine Wasserfontäne aus dem Boden schoss und das Stück Blech gen Himmel beförderte. Illuminator fuhr erschrocken zusammen, als das Blech mit einem dumpfen Laut neben ihr landete. Wie war das möglich? Was war hier eben passiert? Woher kam diese Wasserfontäne? Ein zufälliges Naturphänomen? Kam das hier öfter vor? Man sollte den Boden untersuchen! Das war ja gefährlich hier!
    Illuminator konnte ja nicht ahnen, dass es sich in Wirklichkeit um Zauberei gehandelt hat. Sie kam aus einer Stadt, wo nicht viel über solchen Unfug bekannt war. Und sie selbst hatte sich nie dafür interessiert. Wissenschaft und Physik hatte sie schon immer mehr fasziniert. Mehr als alles andere. So versuchte sie auch eine logische - eine wissenschaftliche Schlussfolgerung zu ziehen, wie das passiert sein könnte. Dementsprechend reagierte sie auch verwirrt, als der Eindringling meinte, dass sie ihr etwas schuldig sei. "Was soll ich dir schulden?", fragte sie. "Was hast du schon getan?" Es war pures Glück gewesen, dass in diesem Moment eine Wasserfontäne aus dem Boden schoss. Damit hatte das verwöhnte Gör doch gar nichts mit zu tun. "FINGER WEG!", schrie Illuminator plötzlich, als sich der Eindringling nach dem Blech Stück bückte. "FASS ES NICHT AN!" Und bevor dieser auch nur irgendetwas unternehmen konnte, krallte sie sich das Blech und drückte es ganz fest an ihre Brust. Es tat gut ein weiteres Stück ihres Babys wiederbekommen zu haben. Auch wenn es vollkommen verbogen und verbeult war. "Keine Angst", murmelte die Rothaarige mit geneigten Kopf. "Das kriegen wir wieder hin, mein Schatz. Wir schaffen das."

    "Aber ja!", erwiderte Soseki. Er begann mit weit aufgerissenen Augen wild zu gestikulieren. So wie er es immer tat, wenn ihn etwas erregte. "Das ist nicht zu glauben! Und für welchen Preis sie diesen verkaufen! Haben Sie das gesehen?" Soseki warf - wie zufällig - einen Blick über die Schulter. Er wollte wissen, ob die Verkäuferin ihn beobachtete. Ob sie sich an seine Worte störte. Doch zu seinem Enttäuschen musste er fest stellen, dass sie sich gar nicht für ihn interessierte. Sie sah nicht mal im Ansatz in seine Richtung! Frechheit!, fand er. Da will ich mich einmal über etwas aufregen und dann sieht sie nicht mal her! Der junge Mann wendete sich wieder dem Mädchen zu. "Bitte was?", erstaunt blickte er drein. "Habe ich das behauptet? Entschuldigung, dass ich mich einfach zu Ihnen gesetzt habe. In meiner Aufregung habe ich Sie nicht gesehen. Soll ich mich woanders hinsetzen?" Der Brünette wurde immer ruhiger. Und nachdem er sich seine Zunge verbrannt und an sein Karma erinnert wurde, war die Aufregung komplett verschwunden. Doch sie wartete nur darauf beim nächsten Geräusch oder Wort oder was auch immer wieder aus der Haut fahren zu können. Die eine Stunde Schlaf ... welche Ausmaße das bloß auf ihn hatte. Ab heute geht er immer pünktlich ins Bett! Ohne Ausnahmen! Nachdem der Buddhist seinen Tee beiseite gestellt hatte und sich wieder dem Mädchen widmen wollte, passierte etwas Eigenartiges. Seine heiße Milch ... sie verwandelte sich vor seinen Augen in ... Tee! "Wie? A-aber ...", stotterte er, während er seine Tasse genauer betrachtete und schließlich einen Schluck schlürfte. Tatsächlich. Tee! Kein Grüntee, wie das Mädchen sagte, aber Tee! "Wie hast du das gemacht?", fuhr er herum. "Wie ist das möglich?" Zauberei? Telekinese? Wunschdenken? Nein ... letzteres könnte es nicht sein. Sonst wäre es ja Grüntee.

    Der unausgeschlafene Soseki erreichte das Café in Windeseile. Es war kalt draußen, so kalt, dass er nicht allzu lange meditieren konnte. Normalerweise könnte er das natürlich. Aber ihm fehlte eine Stunde Schlaf. Er war unkonzentriert. Und das ärgerte ihn. Mag sein, dass seine Laune heute auch darunter leiden wird. Mag sein, dass er heute ein wenig ... unfreundlicher wäre, als sonst. Denn wenn Soseki etwas störte, dann, dass er im Morgengrauen nicht meditieren konnte! Es gehörte dazu! Zu seinem täglichen Morgenritual. Und wie sollte der Tag noch gut werden, wenn der Morgen schon so daneben war?
    Der junge Mann steuerte sofort auf den Tresen zu. Er sagte: "Einen Grüntee, bitte. Aber nicht so einen, wie beim letzten Mal." Die junge Frau hinterm Tresen verstand nicht. Was war denn beim letzten Mal?, fragte sie. "Also", sagte Soseki, ein wenig schnippisch, "wenn man die Suppe beim letzten Mal überhaupt als Grüntee bezeichnen kann ... Bei den stolzen Preis kann man ruhig etwas mehr Qualität verlangen!" Die junge Frau entschuldigte sich, dass es ihm anscheinend nicht geschmeckt hatte, aber dass sie dafür auch nichts können. Darauf fiel ihr Soseki ins Wort. "Das hat nichts mit Geschmack zu tun", meinte er. "Jeder der schon mal einen guten - nein - einen richtigen Grüntee getrunken hat, weiß, dass das, was Sie verkaufen überhaupt nichts damit zu tun hat!" Leicht genervt atmete die Verkäuferin aus. Sie schien nicht auf Streit aus zu sein. "Ich meine", sagte er, "was ist mit einem edlen Matcha? Oder einem Gyokuro? Sencha? Haben sie das schon mal gehört? Wenn nicht, würde mich das nicht wundern." Der Brünette wollte die junge Frau wirklich provozieren, doch sie ging nicht darauf ein. Stattdessen fragte sie, ob sie ihm vielleicht etwas anderes anbieten könne. Eine heiße Milch vielleicht?
    Seufzend willigte Soseki ein. Er bemerkte, dass er bei der gleichgültigen Verkäuferin so nicht weiter kam. Da wollte er jemanden mal die Kunst des Grüntees vermitteln und ... und dieser Frau war es egal! Unerhört! Unerhört ist so etwas!
    Soseki bezahlte seine heiße Milch und setzte sich dann zufällig auf eine Couch, wo schon ein blondes Mädchen saß und friedlich ihre Muffins aß. Erst hatte er sie gar nicht gesehen. Doch nun saß er hier. Direkt neben ihr. "Die haben keinen anständigen Grüntee hier!", stellte er für das Mädchen noch einmal fest. Dann nahm er einen großen - vielleicht zu großen Schluck von seiner Tasse und verbrannte sich die Zunge. Tja, dachte er. Karma halt ...

    Die Pilotin antwortete nicht. Sie musste sich setzen. Und das, wo sie es gerade geschafft hatte aufzustehen. Dass ihr Baby ... Dass ihr Baby bei dem Absturz zerstört worden sei ... Das ging ihr einfach zu nah. Sie konnte nicht darüber sprechen. Es schmerzte zu sehr. Illuminator hielt sogar den Blick gesenkt. Das bedeutete, dass der Eindringling nun unbeobachtet war. Er konnte sich nun frei bewegen ohne das sie es bemerken würde. Den die Rothaarige war momentan in einer anderen Welt. In einer Welt, wo es ihrem Baby noch gut ging, wo es keine Herkuleskäfer gab und kein Land. Bloß weiter offner Himmel. Was sie tat, wenn eines Tages der Tank leer war, das wusste sie nicht. Es war auch nicht von belangen.
    Die junge Frau setzte sich auf. Ihr Blick wanderte umher. Begutachtete die Umgebung. Bis er schließlich den Eindringling erreichte. "Nein", sagte sie. Illuminator kam nicht zur Einsicht. Und das würde sie auch nie. Sie konnte ihr Baby nicht allein lassen. Sie konnte ihre Wunden nicht verarzten lassen, wenn sie wusste, dass es ihrem Baby noch schlechter ging. Das wäre egoistisch. Und das war sie nicht. Nicht zu ihrem Baby. Sie wollte eine gute Mutter sein. Eine sehr gute.
    Erneut sackte die junge Pilotin in sich zusammen. Sie wollte stark sein. Für ihr Baby stark sein. Konnte es jedoch nicht. Diese Frau ... Dieser Eindringling hat alles durcheinander gebracht! Illuminator hätte das Flugzeugstück schon längst bergen können, wenn sie nicht aufgetaucht wäre! Sie nervte! Klaute ihr Zeit! "Verschwinde!", zischte sie mit zusammengebissenen Zähnen. "Verschwinde! Verschwinde endlich!" Illuminator stand auf. Leichter. Schneller. Die Wut die sich in ihr aufgetsaut hatte gab ihr neue Kraft. Doch anstatt sich dem Eindringling zu widmen und ihn zu vertreiben, drehte sie sich um und versuchte erneut das Flugzeugstück aus den Steinen herauszuziehen. Mit dem Fuß an einem Stein gestützt hatte sie viel besseren Halt. Vielleicht würde es diesmal besser klappen? So schrie und zerrte sie an besagtem Stück. Es musste klappen. Es musste. Es musste. Es musste. "KOMM DA ENDLICH RAUS!" Es funktionierte nicht. Illuminator fiel zurück, die Kraft hatte sie verlassen. Spurlos verlassen. Sie rieb sich den Hintern. Das tat ganz schön weh. Und zwar nicht nur im Gesäß. Die junge Frau drehte sich um. Zum Eindringling. Sie offenbarte ihr ihr Nasenbluten, welches sie nicht einmal selbst bemerkte. "Steh da nicht so rum! Verschwinde oder hilf mir endlich!"
    Was auch immer der Eindringling unter Hilfe verstand. Vermutlich würde er sogar nach diesem Auftritt verschwinden. Auf nimmerwiedersehen. Oder? Oder nicht?

    Ich sollte für die beten, dachte der Brünette seufzend. Wie soll sie bloß ihr Karma reinigen, wenn sie nur half, wenn es nötig war? Würde das ausreichen? Vielleicht ... Vielleicht wenn es öfters passierte. Wenn es die bösen Taten und Gedanken übermahnte. Aber ansonsten ... Beten!, rief er es sich in Gedächtnis. Ich werde für sie beten. Gleich, wenn ich zu Hause angekommen bin.
    Ein breites Lächeln huschte über die Lippen des Buddhisten. "Richtig!", sagte er mit strahlenden Augen. "Das war bloß ein Test. Und du hast ihn bestanden. Ich glaube nicht, dass deine Seele irgendwo im Universium versauert. Ich glaube an dich. Dein Herz sitzt am richtigen Fleck." Der junge Mann lächelte und nachdem er die Kellerin bezahlt hatte, ließ er sich von Gwen nach draußen begleiten. Soseki bedankte sich für den schönen Abend und für ihr Kompliment. Ein lustiger Typ? Na, wenn sie das sagte. Dann wünschte er ihr alles Gute und einen guten Heimweg, ehe er sich dann selbst auf dem Weg nach Hause machte.~

    Faszinierend, dachte der Brünette, während er Gwen beim Essen zu sah. Nicht nur, dass sie in einer unmessbaren Geschwindigkeit aß, nein, sie dieses Zeug überhaupt! Dass ihr das nicht zu scharf war? Ein Wunder? Oder gehörte Gwen einfach zu den Menschen, die unmengen scharfes Zeug in sich hinein stopfen konnten ohne auch nur eine Wimper zu verziehen? Mag sein. So wie sie dieses Essen vertilgte.
    Auf Gwens nächste Aussage reagierte der Brünette jedoch etwas geschockt. War das ihr Ernst? Oder wusste sie einfach nicht, wie sie dieses Gefühl einordnen konnte? Soseki verstand nicht ganz. "Wie fühlst du dich denn, wenn du jemanden vom Abkrazten bewahrt hast?", fragte er. "Es ist ja - hoffentlich - nicht so, als würdest du das jeden Tag machen."
    Der junge Mann wollte seinen Kopf wieder in seine Hände stützen. Jedoch bemerkte er, dass sein Rücken dafür viel zu sehr schmerzte. So musste er wohl oder übel so sitzen bleiben. Aufrecht und soweit vom Stuhl weggerückt, dass er die Lehne nicht berührte. Hoffentlich konnte er bald nach Hause gehen. Aber so schnell, wie Gwen aß, würde das nicht mehr lange dauern.
    Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sagte, sie habe ihn nur gerettet, damit er das Effen bezahlte. "Du hättest das Geld auch aus meiner Tasche entnehmen dürfen", sagte er grinsend. "Dir wäre es gewehrt." Obwohl das ihrem Karma bestimmt nicht gut tun würde? Aber jeder so, wie er will.
    Der Buddhist kramte in seiner Tasche nach besagtem Geld. Während er sich fragte, wie viel Trinkgeld für diesen Abend wohl angemessen wäre, schließlich hatte sich niemand von dem Personal um ihm gekümmert, als er beinahe erstickt wäre, hatte Gwen ihren Teller vollständig geleert. "Gut", sagte Soseki und hatte sich schließlich für einen Euro Trinkgeld entschieden. Mehr war nicht drin, mehr hatten sie sich nicht verdient. "Wollen wir dann jetzt gehen?", fragte Soseki. Jeder in getrennte Richtungen, wahrscheinlich? Für heute hatten sie ja genug Abenteuer erlebt.

    Illuminator beäugte das Menschlein eindringlich. Sie fragte sich, was es eigentlich hier wollte. Was es von ihr wollte. Wieso kam es hier her - drang in ihr derzeitiges Reich ein - um offensichtliche Dinge zu regestrieren und dumme Fragen zu stellen? Was wollte es damit bezwecken? Mag es sein, dass es aus einen bestimmten Grund hier ist? Wurde es vielleicht von jemanden geschickt? Jemand höher Stehendes? Höher Stehendes als dieses verwöhnte Ding? Vielleicht wurde es ja von denjenigen geschickt, der ihr die schicken Schühchen bezahlte? Und das hübsche Kleidchen und die edle Pelzweste? Bezahlte er wohl auch die Weiber, die ihm die Locken drehten und ihm die Schleifen banden? Ihm das Gesicht puderten? Wut steigte in Illuminator auf, wenn sie daran dachte. Vielleicht war das ihr Preis. Einmal in der Woche soll sie ihre Runden drehen und Menschen aus dem schönen Städtchen schaffen, die dort nicht hingehörten. Wohlarbeitende Menschen mit einer Mission! Einer Mission, die dieses kleine hübsch hergerichtete Köpfchen nie verstehen würde!
    Die Hände in die Hüften gestemmt ließ Illuminator den Eindringling keine Sekunde mehr aus den Augen. Sie wagte es nicht einmal zu blinzeln. Ihre willkürlichen Gedanken vernebelten ihren Verstand. Und musste sie eben mit jedem Augen einzeln blinzeln, wenn es nicht anders ging, so sei es! Sie musste sich und somit auch ihr Baby beschützen. Wer sollte es wieder aufbauen, wenn sie nicht mehr da war? Wer sollte sich um ihn kümmern? Niemand! Es war ganz auf sich allein gestellt, wenn Illuminator nicht mehr ist. Und das wollte sie nicht! Das stand in keinen Sinn einer guten Mutter!
    Der Eindringling fragte, wer sie seien. Wollte sie sich vergewissern, dass sie wirklich nicht alleine war? Welches Spiel wird hier getrieben. Die junge Frau verzog das Gesicht. "Nein", sagte sie mit gequälten Unterton. Es fiel ihr nicht leicht darüber zu sprechen. Ganz und gar nicht leicht. "Mein Baby", flüsterte sie und musste den Blick abwenden. Aber bloß kurz! Sie konnte den Eindringling doch nicht lange aus den Augen lassen! Diese hatte sich ihr nun wieder genähert. Oder kam es ihr bloß so vor? Sie wusste es nicht. Es zeigte der Rothaarigen bloß, dass sie ihn nicht noch einmal aus den Augen lassen dürfte. Was wenn er noch näher kommen würde? Nein, das wollte sie nicht! Sie würde zu nah an ein Teil ihres Babys rankommen. Und würde sie diese berühren ... Oh nein! Sie würde zu Gott beten, es nie getan zu haben!
    Die nächste Aussage des Eindringlings verwirrte Illuminator etwas. Wie? Sie würde sterben? Was meinte sie damit? Als Pilotin hat sie keine Angst vor dem Tod. Das wäre ja fatal, wenn es so wär'! Dementsprechend verhielt sie sich auch. "Ich weiß", sagte sie im gleichgültigen Ton. "Du auch. Wir werden alle sterben." Irgendwann, ja. Dass Illuminator diesen Weg jedoch bald einschlagen wird, wenn sie nicht bald ihre Verletzungen behandeln ließ, ja, dass war der guten Pilotin nicht bewusst. Sie konnte nur an ihr Baby denken. Und das war ja viel schlimmer dran, als die Rothaarige. An ihr waren wenigstens noch alle Teile dran.

    Nachdem sich der Herzschlag des Buddhisten reguliert hatte, begann er zu herzlichst zu lächeln und Gwen zustimmend zu zu nicken. (zu, zu, zu! <.> ...) "Genau!", sagte er begeistert und wäre beinahe wieder aufgestanden - diesmal wissentlich - doch er ließ es lieber. "Das ist Karma! Und du spürst es! Dankbarkeit! Stolz! Gwen ohne dich wäre ich jetzt tot! Du hast ein Leben gerettet! Hast mein Leben gerettet! Und ich weiß nicht, wie ich dir das verdanken kann. Wenn es irgendetwas gibt - egal was - du hast was gut bei mir." Und das meinte er ernst. Toternst. Im wahrsten Sinne des Wortes.
    Der junge Mann begann zu lächeln, als Gwen meinte, dass wohl etwas mit seinem Karma nicht stimmte. Das glaubte er nicht. Nein, im Gegenteil. Mit seinem Karma war alles in Ordnung. Genau genommen hatte er ebenfalls eine gute Tat vollbracht. Er hatte Gwen dabei geholfen etwas für ihr Karma zu tun? Gab es denn etwas besseres, als jemanden vor dem Tod zu bewahren? Oh nein! Gwen ist ein Held! Und Soseki hatte sie dazu gebracht. Das hatte nichts mit Karma zu tun. Das war Schicksal. Jedoch wollte er ihr das nicht sagen. Er glaubte, dass er sie verärgern und ihre Freude dämpfen würde, wenn er es ihr sagen würde.
    Soseki nahm einen weiteren Schluck seines Getränks. Sein Essen hatte er ein Stück beiseite geschoben. Heute wollte er nichts mehr davon essen. Er hatte genug. Dafür sah er nun Gwen beim Essen zu, der das scharfe anscheinend weniger auszumachen schien. "Anscheinend", gab er zu. "Dabei sollte man sein Essen genießen - ich als Buddhist müsste das eigentlich wissen. Naja, jeder Mensch macht Fehler. Selbst jemand, wie ich." Und das klang kein bisschen eingebildet!

    Am Boden liegend und den Blick gen Himmel gerichtet schürzte Illuminator die aufgesprungenen Lippen. Die blutigen Hände hatte sie so weit wie möglich vom Körper gestreckt. Sie bot einen eigenartigen Anblick. Zu dem kniff sie die Augenbrauen zusammen - ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie über die Worte des Eindringlings angestrengt nachdachte. Sie verstand sie nicht. Diese Worte. Was wollte er ihr damit weismachen? Warum verschwendete er ihre kostbare Zeit? Illuminator hatte keine Zeit für Plausch. Sie wollte weiter an ihr Luftschiff arbeiten. Doch die Worte des Eindringlings verwirrten sie. Lenkten sie ab. "Du siehst furchtbar aus", wiederholte sie sie in Gedanken. Illuminator begann sie zu drehen und wenden. Vielleicht versteckte der Eindringling eine geheime Nachricht in diesem Worten? Eine geheime Nachricht, die so geheim war, dass sie diese ihr nicht einfach ins Ohr flüstern konnte, sondern einen Code dafür erstellen musste. Oder!, so dachte die Pilotin, hatte sie sich einfach versprochen? Illuminator schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Du siehst furchtbar aus? Du siehst furchtbar aus? Siehst furchtbar aus? Siehst furchtbar aus? Sieht furchtbar aus! Ja! JA! Sie hatte es entschlüsselt! Nicht sie sah furchtbar aus, es sah furchtbar aus! Das Baby! Ihr Baby! Das Luftschiff! Wie konnte sie sich bloß über diese Worte gewundert haben? Ha! Wie lächerlich!
    Grinsend richtete sich die Rothaarige auf. Ihre Augen suchten den Eindringling und hatten ihn schnell gefunden. Er stand etwas abseits - hatte er sich etwas weiter von ihr entfernt? Illuminator könnte wetten, dass er vorher noch näher zu ihr stand - und starrte sie an. "Ärztliche Hilfe?", wiederholte sie fragend und legte dabei den Kopf etwas zur Seite. Ist das ein anderer Ausdruck für "Werkstatt"? Schließlich nannte sie ihr Baby auch "Baby" und nicht Luftschiff. Trotz allem blieb eine Werkstatt eben eine Werkstatt und keine Klinik oder Heilkammer oder sonst was. Schon seltsam, diese Leute hier. Illuminator konnte sich glücklich schätzen, dass erst jetzt einer von ihnen den beschwerlichen Weg hier rauf erklommen hat.
    Die junge Pilotin wollte aufstehen, doch der Zug, welchen sie plötzlich in ihrem Nacken verspürte hinderte sie daran. Waren die gut zwei Stunden schon vergangen? Sie hatte noch gar nichts geschafft! Hatte sie sich nicht vorgenommen die Zeit sinnvoll zu nutzen und sich intensiv ihrem Luftschiff zu widmen, um sich dann ruhigen Gewissens eine leider Gottes notwenige Pause zu gönnen?! Ja! Das hatte sie, verdammt! Und nun? Nun waren zwei Stunden um? Oder? Oder!? Sie hatte kein Zeitgefühl mehr. Hatte sich bloß nach ihren Nackenschmerzen gerichtet. Wie konnte das sein? Wie konnte die Zeit so schnell vergehen?! Lag das an dem Eindringling? Hatte er ihr kostbare Zeit gestohlen? Oh Gott!
    Auf der Stirn der ehemaligen Pilotin bildete sich eine tiefe und strenge Falte. "Wir kommen schon zurecht", sagte sie. Sie hatte es sich anders überlegt. Eine Werkstatt war ja schön und gut, zu mal diese aber auf diesen Berg kommen müsste, um ihr tatsächlich zu helfen. Die vielen Einzelteile würde sie nicht aller bergen, um sie dann unter Anstrenung in die Stadt zu tragen. Nein, so viel körperliche Kraft konnte sie nicht aufbringen. Das brauchte sie auch gar nicht. Schließlich hatte sie ihr Luftschiff selbst konstruiert und entworfen. Niemand kannte es besser als sie. Eine lumpige Werkstatt brauchte sie also gar nicht! Eine gute Mutter bekam das schon alleine hin.
    Nachdem die junge Frau einige Minuten gesessen hatte, schaffte sie es auch - wenn etwas ungelenk - sich wieder aufzurichten ohne Schmerzen zu erleiden. Sie blickte finster Richtung Eindringling. "Und jetzt geh", sagte sie. "Stehl' mir nicht meine Zeit!"

    Von jetzt an bis zur entgültigen Erleuchtung nehme ich Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sanghar, begann der Brünette zu beten. So gut es eben ging, jedenfalls. Während man um den Erstickungstod bangte, war es nämlich gar nicht so leicht die Geduld dafür zu wahren.
    Zum Glück kam Gwen und drehte ihn auf den Oberkörper, um dann unaufhörlich auf seinen Rücken eindreschen zu können. So konnte er seine Gebete selbstverständlich nicht zu Ende bringen, doch das brauchte er auch gar nicht. Er spürte es! Er spürte, wie der unzerkaute Nudel Haufen auf halben Wege kehr machte und seine Kehle wieder hinauf kroch. Er spürte, wie ... Plumps! Dank Gwen klatschte das widerliche Nudel-Knäul auf den Boden. Soseki sog dankbar die Luft ein - seine Gesichtsfarbe regenerierte sich wieder -, während Gwen ihn noch weitere Male auf den Rücken schlug. Später würden ihn vielleicht unaufhörliche Rückenschmerzen quälen, doch diese Bürde nahm er gerne auf sich. Rückenschmerzen waren doch eindeutig besser, als der Tod. Solange er nicht erleuchtet war, konnte er nicht sterben, oh nein!
    Gwen half Soseki dabei sich wieder aufzurichten und bot ihn ein Glas Wasser an, welches der junge Mann erst an die Lippen legte, nachdem sein Herz wieder in gleichmäßigen Abstand schlug und er wieder frei Luft holen konnte. Was relativ schnell geschah. Trotzdem hatte er immer noch das Gefühl, in seiner Kehle säße immer noch dieser eklige Klumpen. Aber auch dieses Gefühl würde bald vergehen.
    Erst war der Brünette über Gwens Frage überrascht. Jedoch wandelte sich seine Überraschung bald in ein verlegenes Lächeln um. "Du hast recht", sagte er. "Ich danke dir. Du hast mir mein Leben gerettet, Gwen. Danke ..."

    Illuminator hatte es nie leicht gehabt. Weder ihre Eltern, noch ihre wenigen Freunde hatten ihren Traum vom Fliegen je verstanden. Schon sehr früh hatte man sie für "verrückt" erklärt. Manche Nachbarskinder durften nicht einmal mehr mit ihr "Vögelchen" spielen. Es hatte lange gedauert, die eigenen Eltern zu überzeugen. Vor allem ihr Vater hatte sich lange quer gestellt. Letztendlich gab er nach, weil er wusste, dass er seine einzige Tochter verlieren würde, wenn er sie und ihre Träume nicht unterstützen würde. Und nachdem diese Hürde überwunden war, kam die nächste auf sie zu: Sich in einer von männerdominierten Welt durchzusetzen. Anerkennung für ihr Wissen und Talent zu erhalten. Im Endeffekt kam es dazu, dass die Männer sie nicht als Frau akzeptierten, sondern sie als "Gleiches" ansahen. Sie behandelten sie wie einen Mann. Auf grobe und unfreundliche Weise. Doch Illuminator hatte gelernt sich damit abzufinden. Dann war sie eben ein Mann, egal, solange sie mitreden und eines Tages fliegen dürfte, nahm sie jede Erniedrung hin. Sie hatte so viel durchgestanden. Hatte Wochen, Monate lang an der Konstruktion ihres Luftschiffes gesessen. Hatte es mit eigenen Händen gebaut. Hatte es geliebt und unzählige Flüge darin überstanden. Nie hätte sie gedacht, dass es eines Tages so enden würde. Ihr Baby.
    Schluchzend und jammernd ließ Illuminator von den Steinen ab. Sie bewegten sich keinen Zentimeter. Sie war zu schwach. Zu schwach, um ihr Baby zu retten. Was war sie nur? Ein Versager! Ein Nichtsnutz! Ein Schwächling! Eine Rabenmutter! Wütend schlug Illuminator mit den Fäusten auf einen der Steine ein. Solange bis ihre Hände bluteten und sie aufhören musste, da sie zu sehr schmerzten. Beim Anblick ihrer Hände fragte sich die Rothaarige, was sie hier eigentlich tat. Warum schlug sie sinnlos auf einen Stein ein? Was sollte passieren? Dass er unter ihren Schlägen zerbrach? Schön wärs ... Sie sollte sich ihre Kraft für die Bergung der Flugzeugteile aufheben. Illuminator versuchte es noch einmal, bis eine Stimme ertönte und sie mit einem Aufschrei herum fahren ließ. Weit aufgerissene Augen erblickten eine blauhaarige - anscheinend vom guten Hause kommende Frau, die sie mit ebenso geweiteten Augen anstarrte. Eine ganze Weile starrten sich die beiden Frauen so an. Beide geschockt vom jeweiligen Aussehen des Anderen. Mit Menschen hatte Illuminator hier nicht gerechnet. Wie lange "lebte" sie schon hier? Eine ganze Weile, oder? Und noch nie war ein Mensch hier vorbei gekommen. Wobei ein Flugzeugabsturz normalerweise für viel Aufruhr sorgt. Illuminator konnte es sich nur so erklären, dass die Sternenwarte einfach zu weit von der Stadt entfernt lag.
    Schließlich unterbrach die Fremde - oder auch "der Eindringling", wie ihn Illuminator in Gedanken schon benannt hat - das Schweigen. "Hm?" Ob es ihr gut ging? Anstatt an sich herunter zu blicken und festzustellen, dass ihre Kleidung teils völlig zerrissen und von Blut überströmt war, blickte sie zu ihrem Luftschiff. Die junge Pilotin interessierte sich nicht für ihren eigenen Gesundheitszustand. Eine gute Mutter musste sich erst einmal um ihr Baby kümmern, bevor sie sich mit sich selbst beschäftigt. Und sie ist eine gute Mutter. Sie würde sich erst um sich selbst kümmern, bis ihr Luftschiff wieder zusammen gebaut und so glänzend poliert war, dass sie sich darin spiegeln konnte. Solange musste sie den eigenen Körper eben vernachlässigen. Gesundheitlich und hygenisch. Wann war sie sich das letzte Mal waschen? Bevor sie in ihr noch heiles Luftschiff gestiegen war? So roch die Rothaarige auch dementsprechend. Nach Treibstoff und Schweiß, Tod und Verderben.
    Langsam wandte sie den Blick wieder zum Eindringling. Sie legte den Kopf schief und hielt den Mund leicht geöffnet. Einen Moment verharrte sie so, bis sie plötzlich ... zu lachen begann? Ja, sie lachte! Sie schüttelte sich ja fast vor lachen! Um nicht auf die Knie zu fallen, musste sie sich an jenen verhassten Stein abstützen. "DU STELLST FRAGEN!", schrie sie lachend und sank langsam zu Boden, wo sie dann mit den Händen auf den Bauch gelegt ruhig liegen blieb. Ab und zu drang ein leises Kichern durch ihre halb geschlossenen Lippen. "Sieht das GUT aus?", fragte sie plötzlich, während sie sich aufrichtete und klagend Richtung zerstörtes Luftschiff zeigte. Was tat dieser Eindringling hier eigentlich? Sie von der Arbeit abhalten? Puh! Wie sehr sie kleine verwöhnte Gören aus gutem Hause verabscheute, die noch nie in ihrem Leben für irgendetwas gearbeitet haben! Noch nie! Ekelhaft ist sowas! Ekelhaft!

    Belustigt beobachtete Soseki Gwens Kampf mit dem Stäbchen. Sie versuchte eine einzelne Nudel - in der Hand je ein Stäbchen - in ihren Mund zu befördern. Da der junge Mann nicht darüber lachen wollte, er jedoch nicht anderes konnte, wendete er seinen Blick ab und hielt sich unwillkürlich die rechte Hand an den Mund. Gwens Tatik erinnerte ihn an seine eigene. Vor ein paar Jahren hatte er auch er das erste Mal mit Stäbchen gegessen. Doch im Gegensatz zu ihm blieb sein Meister ernst und lachte seinen Gegenüber nicht aus. Nicht aus!, ermahnte er sich. Ich lache sie an! An! Nicht aus! Anlachen war besser fürs Karma, so dachte der Brünette jedenfalls.
    Er sagte nichts dazu, nickte bloß zustimmend, als Gwen die Kellerin nach einer Gabel fragte. Wenn sie weiterhin mit Stäbchen aß, würde ihr Essen kalt werden, bevor sie überhaupt bis zur Hälfe kommen würde. Und das musste ja nicht sein. Das Essen war teuer, also sollte es der jungen Dame auch schmecken.
    Gerade hatte Soseki mit gekonnten Griffen einen Haufen Nudeln zwischen seinen Stäbchens geklemmt und führte sie zu seinem Mund, als Gwen das Thema von eben noch einmal ansprach. Das scharfe Sambal Ulek brannte auf Sosekis Zunge, nie im Leben hätte er damit gerechnet, dass es wirklich so scharf ist. Er versuchte den ganzen Haufen unzerkaut herunter zu schlucken, um etwas trinken zu können. Jedoch verschluckte er sich dabei. Hustend klopfte sich der Brünette gegen seine Brust. Er spürte den Klumpen in seiner Kehle sitzen. Der junge Mann bekam keine Luft mehr. Nach und nach färbte sich sein Kopf rot, bis er sich jedoch in ein dunkeles lila umwandelte. Seine Augen waren soweit aufgerissen, dass man befürchten könnte, sie würden aus seinen Höhlen fallen. Soseki glaubte zu ersticken. An einen Klumpen scharfer Nudeln. War das etwa Karma? Hätte er sie nicht anlachen dürfen, nur weil sie nicht mit Stäbchen umgehen konnte? Oder hätte er seine Glauben bei dem Verkäufer nicht ausnutzen dürfen? War das jetzt seine Strafe? Oh, erhört doch sein Flehen! Ich bin zu jung zum Sterben! Er hatte es doch nicht böse gemeint! Warum musste er nur so bestraft werden! Nein! Er wollte nicht sterben! Und vor allem nicht so!
    Sosekis lautes Husten musste nun die Aufmerksamkeit der Gäste und Mitarbeiter des Restaurants erhört haben. Irgendwer musste etwas unternehmen! Sonst würde er vor Augen aller ersticken ...

    Der junge Mann hob die Hand, um etwas zu sagen. Aus seinen Mund kam jedoch kein Ton. Gwen hatte ihn erschüttert. Bis aufs Mark erschüttert. Er konnte - nein - er wollte nicht glauben, was er da hörte. Wie kann man nur genug von guten Taten haben? Wie kann man nicht leuchten wollen - geschweige denn - sich aufopfern wollen? Und vor allem: Wie kann man diesem ganzen Quatsch nicht großartig finden? Wie um alles in der Welt kann ein Mensch so leben?
    Soseki verstand das nicht. Er versuchte ja es zu verstehen, aber er konnte es einfach nicht nachvollziehen. Für ihn steht außer Frage, dass man nur ein erfülltes Leben führen kann, solange man gute Taten vollbringt. Man muss ja keine Katze vom Baum retten - diese Situation kommt zum Glück recht selten vor. Aber man kann auch andere gute Taten erfüllen. Man darf doch nicht nur an sich selbst denken! Das vergiftet nicht nur das Karma, das vergiftet auch deine Seele! Gwens Seele! Oh nein!
    Ohne Vorwarnung griff er nach Gwens Händen und hielt sie gut fest. "Gwen", sagt er mit ernster Stimme. "Du armes Geschöpf ... Es ist noch nichts verloren, glaube mir. Du kannst jeden Tag gute Taten begehen, auch wenn sie noch so klein sind. Du bist kein schlechter Mensch. Auch wenn du nicht hilfsbereit bist und auch nicht leuchten willst. Auch deine Seele findet irgendwann Platz im Universum. Ich werde dafür beten..." Und bevor der Brünette weiterreden konnte kam - zum Glück - das Essen. Die gebratenen Nudeln waren hübsch hergerichtet und der Teller war lang nicht so voll gepackt, als wenn sie zum Chinesen gegangen wären. Dafür war es auch weit teurer. Das Sambal Ulek war schon hübsch geschwungen auf den Nudeln verteilt, sodass man keine Wahl hatte: Man musste sie mitessen.
    Zu diesem Essen gab es kein Besteck, wie es Gwen gewöhnt sein wird, sondern tradionell chinesische Stäbchen. Der junge Mann trennte seine Stäbchen von einander und wünschte Gwen einen guten Appetit.

    Im Gesicht des Brünetten zeichnete sich Verständnislosigkeit ab. In wenigen Sekunden jedoch wandelte sie sich ins pure Entsetzen um. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte er die rechte Hand vor dem Mund gelegt. Rehbraune dunkele Augen drohten aus ihren Höhlen zu fallen, so sehr erschrak ihn die Aussage Gwens. "W-wie? I-ich verstehe nicht ...", stammelte er und spürte, wie ein kalter Schauer seinen Rücken entlang lief. Wie ist das überhaupt möglich?, fragte er sich. Wie kann Karma einen Schmerzen zu fügen? Das ist doch unmöglich! Natürlich wusste er nicht, welche Schmerzen Gwen verspürt hatte und es dämmerte ihn auch nicht, als er einen Blick auf ihren Unterarm warf. Dass sie in Wahrheit nämlich Schmerzen wegen einer auf einem Baum gefangener Katzen erlitten hatte, tja, daran dachte er nicht einmal, obwohl er diese gute Tat eben aufgezählt hatte. Er interpretierte ihre Aussage so, dass sie nicht das sogenannte "Stolz"-Gefühl verspürte, sondern Schmerzen erlitt, die aus heiteren Himmel kamen. Der junge Mann konnte sich zwar nicht vorstellen, wie das möglich sei, aber etwas anderes konnte er sich nicht darunter vorstellen. "A-aber Gwen!", rief er plötzlich aus. "Das ist ja schrecklich! Du Arme! Da muss man doch etwas machen können ... Meine Güte ..." Soseki faltete die Hände und versuchte zu überlegen. Irgendwie muss man diesem armen Geschöpf doch helfen können? "Du darfst auf keinen Fall aufhören, gute Taten zu vollbringen! Das ist das schlimmste, was man machen kann! Auch wenn dich Schmerzen begleiten, das ist wahrlich das Größte Opfer, das man bringen kann. Vielleicht ... Vielleicht wird dir so die Erleuchtung widerfahren ... Oh! Gwen! Eine größere Aufopferung kann es ja gar nicht geben! Das ist fantastisch! Großartig!" Und schon wieder war der junge Mann aufgestanden ohne es zu bemerken. Erneut starrten ihn teils belustigte und teils verärgerte Gesichter an. Und Soseki setzte sich wieder. Diesmal entschuldigte er sich nicht. Er tat einfach so, als wäre das eben nicht passiert.

    "In Ordnung", sagte Soseki und klappte lächelnd die Speisekarte zu. Er winkte eine Kellerin zu sich herüber, um ihr seine Bestellung aufzugeben. "Zwei mal Bami Goreng", und mit einem breiten Grinsen im Gesicht fügte er hinzu, "mit Sambal Ulek, bitte." Umgangssprachlich würde das bedeuten: Zwei mal Chinapfanne mit scharfer Paste, Puppe. Aber fachmännisch ausgedrückt klingt es ja viel orentialischer. Außerdem konnte sich Gwen so weniger darunter vorstellen und das gefiel den Brünetten. Er wollte die junge Dame überraschen und naja vielleicht mag sie ja scharfe Paste. Oder ist Soseki derjenige, der sich am Ende selbst eine Grube gräbt. Denn auch für ihn ist es das erste Mal, dass er Bami Goreng mit solch einer scharfen Paste isst. Normalerweise bevorzugt er eine pikante Soße. Aber, rief er sich ins Gedächtnis, man muss ja immer offen für neues sein! Sogar Buddhisten sehen das so, auch wenn man es nicht vermutet. Und während die beiden so auf das scharfe Essen warteten, stellte Gwen eine Frage, die Soseki überraschte, da sie so plötzlich kam, ihn aber auch zum Schmunzeln brachte. Der junge Mann scheint ja sehr von seiner Religon überzeugt zu sein - naiv ist er jedoch keineswegs. Er wusste schon immer, wie die Menschen in der heutigen Zeit auf Religion reagierte. Ob Buddhistmus oder Christentum. Im Prinzip ist es überall das Gleiche. Wie soll ein Atheist einem Glauben nachempfinden? Meistens treffen dann verschiedene Menschen auf einander und die Kommunikation untereinander kann nicht hergestellt werden, weil man zu unterschiedliche Ansichten hat. Hund und Katze sind da ein gutes Beispiel. Wird sich dieses Klischee je ändern? Das soll jedoch nicht heißen, dass es zwecklos ist, jemanden, der noch nie mit dieser Religion in Kontakt getreten ist, diesem diese nahe zu bringen. Es ist immer ein Versuch wert! So auch dieses Mal.
    Schmunzelnd lehnte sich Soseki in seinen Stuhl zurück. "Weißt du, Gwen, es ist vielleicht schwierig zu verstehen, aber ja, ich glaube daran. Hast du - auch wenn es jetzt komisch klingt, nimm es jetzt nicht persönlich - schon mal eine gute Tat in deinem Leben begangen?" Strahlende Augen funkelten die Blondine an. "Hast du beispielsweise schon mal auf etwas verzichtet, um jemand anderen eine Freude zu machen? Auf dein Lieblingseis, zum Beispiel? Oder hast du schon mal jemanden geholfen, der dringend deine Hilfe brauchte? Hast du einer Oma mal über die Straße geholfen? Ein Kätzchen vom Baum gerettet?" Soseki hatte angefangen wild zu gestikulieren. Das tat er des öfteren, wenn er so erregt über seinen Glauben erzählte. "Wie fühlst du dich danach? Gut? Besser? Fantastisch? Das ist es, Gwen! Das ist es, was ich meine! Du spürst das Karma! In diesem Momenten spürst du es! Es ist der Stolz, der dich erfühlt! Das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben! Es ist ...!" In diesem Moment bemerkte Soseki, dass er vor Erregung aufgestanden war und wild gestekuliert hatte. Er spürte, wie ihn die Gäste und die Keller anstarrten. Verlegen kratzte sich der junge Mann am Hinterkopf. Mit errötetem Gesicht setzte er sich. Ganz langsam, als würde ihn so niemand bemerken. Selbstverständlich erregte er so noch viel mehr Aufmerksamkeit. "Upps", sagte er. "Manchmal geht es so mit mir durch, wenn ich darüber rede ... Tut mir leid. Ich hoffe, du verstehst jetzt, wie ich es meine ..."

    Mitten auf dem Weg zum Restaurant fiel dem Brünetten ein, dass man ja auch im Einkaufzentrum hätte essen können. Da gab es bestimmt viele Gelegenheiten, die alle näher dran waren und auch längst nicht so viel kosteten wie ein Restaurantbesuch. Da die beiden die Hälfte des Weges jedoch schon geschafft haben, wäre es witzlos gewesen, wenn sie wieder umgekehrt wären, weshalb Soseki auch nichts dazu sagte.
    Der Buddhist machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ach", sagte er. "Weißt du, so lange ich nicht jedes Mal in das gleiche Geschäft gehe und etwas kaputt mache, funktioniert meine Technik ganz gut. Es fällt mir nämlich sehr schwer nicht im Gedächtnis der Verkäufer zu bleiben. Solange sie mich aber nicht kennen, werden sie perplex sein und ihre Wut vergessen, wenn ich meine Reden schwinge. Buddhismus scheint hier ja nicht gerade verbreitet zu sein." Der letzte Satz wurde von einem Seufzen begleitet. Im Gegensatz zu dem anderen Blödsinn, den er eben von sich gegeben hatte, meinte er das nämlich ernst. "Wahrscheinlich hast du recht", sagte er auf Gwens nächste Aussage. "Es gibt immer Menschen, die so einen Unfug kaufen! Und glauben, es sei der allerletzte Schrei! Ich brauch also gar kein schlechtes Gewissen zu haben!" Welches ich sowieso nicht hatte, da der Verkäufer an sein schlechtes Karma selber schuld hatte! "Und solange ich mich da nie wieder blicken lasse, brauch ich auch gar keine Angst vor dem Verkäufer zu haben!"
    Soseki öffnete die Tür des Restaurant und ließ Gwen eintreten. Ganz Gentlemanlike, natürlich. Sie setzten sich auf einen freien Platz und ließen sich vom Kellner die Karten bringen. Der Brünette schlug natürlich gleich die Seite für die orientalischen Speisen auf. Etwas "heimisches" würde für ihn natürlich nicht in Frage kommen. Und nachdem er sich entschieden hatte, warf er einen Blick über den Kartenrand zu Gwen und fragte: "Und? Hast du dich schon für etwas entschieden?"

    Soseki seufzte. Gwen hatte recht. Seine Freundin ging heute leer aus. Und nicht nur heute. Der junge Mann fragte sich, ob er überhaupt den Mut gehabt hätte, Suiren den Schal zu überreichen. Es war eine Schnapsidee gewesen. Ein spontanes Handeln. Er hatte den Schal gesehen und geglaubt, dass er Suiren gefallen könnte. Jedoch kannte er sie kaum. Er hatte sie vor wenigen Stunden erst kennengelernt. Wie seltsam würde es dann erscheinen, wenn er einer wildfremden Person einen roten Seidenschal schenkte?
    Der junge Herr verwarf den Gedanken und zwang sich zu einem Lächeln. Da Gwen jedoch eine leichte und angenehme Persönlichkeit hatte, wurde sein Lächeln nach und nach echter. Bis jede Spur von Gestelltheit fehlte.
    Lachend antwortete er Gwen: "Ach wirklich? Das ist ja eigenartig, dass wir uns jetzt erst treffen? Ich hätte nicht gedacht, dass es noch jemanden gibt, der das selbe Hobby pflegt, wie ich." Soseki beobachtete, wie unruhig Gwen wurde. Er wollte gerade nachfragen, ob irgendetwas ist, als sie ihm das Problem offenbarte. Der Buddhist nickte, während er einen Blick auf die Boutique warf. Vielleicht war es wirklich unklug weiterhin hier rum zu stehen. "Vielleicht die olle Bluse?", fragte Soseki grinsend. Das wäre doch sogar sehr gut möglich, zumal er nun keine Verwendung mehr für dieses Ding hätte. "Wir wäre es, wenn wir etwas essen gehen? Ich muss sagen, ich wohne hier schon seit einer ganzen Weile, doch ein Restaurant oder dergleichen habe ich noch nie besucht."

    Überrascht erhob er die Augenbrauen. Lustig? Ja, vermutlich hätte ich auch gelacht, wenn das jemand anderem passiert wäre, musste der Brünette zu geben. Denn innerlich - in seinem tiefsten Inneren - ein Buddhist darf ja gar nicht so denken -, ist er sehr schadenfroh. Und solange er es nicht zu gibt und es niemand bemerkt, braucht er sich auch nicht dafür zu schämen, so empfindet Soseki jedenfalls.
    Verlegen kratzte sich der junge Mann am Hinterkopf, als die Blonde fragte, was ein Mann eigentlich in einer Frauen-Boutique mache. "Ach", sagte er im ironischen Tonfall. "Eigentlich mach ich das jeden Nachmittag." Im nächsten Moment schüttelte er jedoch den Kopf und merkte plötzlich merkte, wir kindisch und albern sein Vorhaben gewesen war. Das konnte er der jungen Dame doch nicht erzählen. Sie würde ihn auslachen! Und das wollte er keinesfalls. Denn mittlerweile hatte sie genug über ihm gelacht! Außerdem sollte sie ihn nicht für einen Kindskopf halten. So musste Soseki erneut gegen eine Tugend verstoßen. Sein Meister wäre bestimmt sehr traurig, wenn er das wüsste. Aber wie heißt es so schön: Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß! "Ich wollte nur etwas für eine Freundin kaufen", sagte er und das war noch nicht mal ganz gelogen. Er hatte es nur verschönert. Denn Suiren war ja leider keine Freundin, noch eine Bekannte. Aber das kann ja noch kommen! Um genau zu sein, hatte er bloß die Zukunft vorhergesagt! Und das verstößt ja gegen keine Tugend! Oder?
    Der Brünette schüttelte die Hand von Gwen - wie sich die junge Frau so eben vorgestellt hatte. "Soseki", sagte er und lächelte. "Und? Was machst du so? Wenn du nicht gerade über Menschen lachst, die versehentlich etwas zerrissen haben und Ärger von Verkäufern bekommen?"

    "Raus?", wiederholte er verwirrt. Eigentlich hatte er mit einer anderen Reaktion gerechnet. Nicht mit Vergebung - so naiv war er ja nun wieder auch nicht. Aber mit Verwirrung und Verstörung. Er wollte auf nette Weise raus gebeten werden und nicht auf diese grobe Art. "Warten Sie", warf er ein, als der Verkäufer ihn nach draußen schob, "so werden Sie nie ihr Karma reinigen! Glauben sie mir, Sie sind auf dem falschen Pfad! Aber sie können noch umkehren! Bitte! Herr ..." Doch da war er schon draußen angelangt und der Verkäufer hatte ihm die Tür vor der Nase zu geknallt. Das darf doch nicht wahr sein! Soseki seufzte und wollte sich gerade auf dem Weg nach Hause machen, als ihm der Schal wieder einfiel. Was sollte denn jetzt daraus werden? Diese Knalltüte hatte einen potenziellen Kunden rausgeworfen ... Na toll!
    Soseki warf ein Blick durch das Schaufenster und sah, wie der Verkäufer nun die blonde Frau abkassierte. Anscheinend haben sie mich nicht nötig!, fiel ihm ein und verschränkte eingeschnappt die Arme. "Scheiß Laden", zischte er, auch wenn es sich nicht schickte, das als Buddhist zu sagen. Aber manchmal musste man eben Ausnahmen machen und Ausnahmen bestätigen ja bekanntlich die Regel. Der Brünette stand immer noch vor dem Geschäft, als die Blondine es verlassen hatte. Sie kam direkt auf ihm zu und klopfte ihm auf die Schulter. Grandiose Vorstellung? Verständnislos blickte er sie an. Was meinte sie damit? Doch dann fiel ihm ein, dass sie sie die ganze Zeit beobachtet haben muss. Na klar! Am liebsten hätte er sich mit der flachen Hand auf die Stirn geschlagen. "Ähm ... bitte", stammelte der Buddhist etwas verlegen. Jetzt war ihm das Ganze ziemlich peinlich. Er hatte sich echt zum Deppen gemacht, nur weil er diesen blöden Schal wollte, denn er am Ende gar nicht bekommen hatte. Wie naiv er war! "Ich ... ähm ... das mit vorhin tat mir übrigens wirklich leid ... Ich hatte wohl irgendwie andere Dinge im Kopf, da habe ich gar nicht aufgepasst. Entschuldigung."