Iris sprach so unbekümmert von ihrem Schicksal, dass es Carmen fast erschreckte. Das arme Ding. Sie wirkte so jung und naiv, und dass sie ihre Gefangenschaft einfach so hinzunehmen schien, hatte wohl genau diesen Grund. Nicht Resignation oder Tapferkeit, sondern einfach ihre kindliche Naivität. Etwas bestürzt runzelte Carmen die Stirn. Dass es der Grünhaarigen einmal die Sprache verschlug, passierte nur selten. Auch Iris schien für eine Weile in Gedanken, bevor sie weitersprach. Carmen wollte gerade antworten, als ihre Gastgeberin schon wieder davonhuschte, um mehr Tomatensaft zu holen. Als sie zurückkam, wurde Carmen bereits mit den nächsten Fragen bombardiert. Ihre Stirn glättete sich wieder. Der Themenwechsel war ihr mehr als recht. "Ja, ich wohne mit meinem Bruder zusammen. Wir haben eine kleine Hütte, direkt am Strand. Ich liebe es dort. Du hörst den ganzen Tag das Meer rauschen, und du kannst Schwimmen oder Angeln gehen, wann immer du Lust hast.", erklärte sie. Während sie redete, legte sich ein schwärmerischer Ausdruck auf ihr Gesicht. "Unsere Eltern wohnen weit von hier entfernt, und das ist auch gut so. Carlos und ich sind beide von zuhause weggelaufen, weil wir es dort nicht mehr ausgehalten haben.", sagte sie dann wieder etwas ernster. "Sie sind nämlich nicht nur langweilig, sondern auch sehr sehr streng. Und wären wir dort geblieben, hätten sie uns gezwungen, ein Leben zu leben, mit dem wir nie glücklich geworden wären." Sie atmete hörbar aus. Da wechselte Iris schon das Thema, und jetzt wurde es wieder deprimierend. Das habe ich ja gut hinbekommen. Sie trank einen Schluck Tomatensaft, dann schüttelte sie den Kopf, als versuchte sie, dadurch das bittere Thema abzuschütteln. "Aber genug davon. Es ist ja alles anders gekommen, und nun sind wir hier, und ich bin bei dir, und wir trinken Tomatensaft und alles ist schön." Sie lächelte Iris aufmunternd an. "Und wenn du von hier weglaufen möchtest, dann könntest du sicherlich bei Carlos und mir wohnen. Das würde bestimmt lustig werden." Dass Carmen wahrscheinlich Iris, sich selbst und wohl auch Carlos in Gefahr bringen würde, wenn sie Iris bei sich aufnehmen würden, wurde ihr bereits klar, während sie sprach. Der Magier, der das arme kleine Ding hier einsperrte, wäre vermutlich sofort in der Lage, sie ausfindig zu machen, und wie seine Rache aussehen würde, wollte Carmen sich gar nicht ausmalen. Aber das Angebot hatte sie bereits gemacht, und nun konnte sie schlecht einen Rückzieher machen. Außerdem wäre Carmen nicht Carmen, wenn sie sich aus Furcht davon hätte abhalten lassen, etwas zu tun, das sie für richtig hielt.
Iris begann wieder zu sprechen und riss die Grünhaarige aus ihren Gedanken. Carmen zog verdutzt die Augenbrauen hoch. Sie hatte nicht erwartet, dass ihre Andeutungen über Carlos jemals bei irgendwem hätten Verwirrung auslösen können. Aber Iris' fehlender Kontakt zur Außenwelt hatte offenbar das Ergebnis, dass sie nur sehr eingeschränkte Vorstellungen über soziales Miteinander hatte. Carmen errötete etwas. Wie konnte sie nun erklären, was genau ein Frauenheld war, ohne Iris zu sehr zu schockieren? "Weißt du...", setzte sie an, und überdachte noch einmal kurz ihre Worte. Sie kam sich vor, als müsste sie einem kleinen Kind erklären, was es mit den Bienchen und den Blümchen auf sich hatte. Eigentlich ist es ja fast genau das. "Auf dieser Welt gibt es Menschen, die verlieben sich ineinander. Und dann werden sie glücklich und heiraten und bekommen Kinder, oder auch nicht. Aber es gibt auch Menschen, die finden, dass sie ihre Freiheit aufgeben würden, wenn sie sich für immer an eine andere Person binden. Und mein Bruder ist so ein Mensch.", erklärte sie vorsichtig. "Wenn Carlos eine hübsche Frau sieht, dann möchte er sie immer gern... kennenlernen. Aber wenn er dann die nächste sieht, ist es wieder das Gleiche." Nein nein nein, das klingt schon wieder viel zu negativ! Carmen wollte nicht, dass Iris, oder irgendwer sonst schlecht von ihrem Bruder dachte. Für sie war Carlos der wichtigste Mensch auf der Welt, und auch wenn er ein verdammter Casanova war, wusste sie, dass ihr Bruder ein gutes Herz hatte und ein hervorragender Mensch war. "Carlos denkt nicht schlecht von Frauen, im Gegenteil. Aber die meisten Menschen finden, dass ein Mann, der sich nicht auf eine Frau festlegen möchte, automatisch böse ist. Aber glaube mir, er ist der beste große Bruder, den man sich wünschen kann. Und zu dir wäre er bestimmt auch nett." Iris' kindliche Art würde in Carlos vermutlich eine Art Beschützerreflex auslösen, vor Allem, wenn er von ihrem schrecklichen Schicksal hören würde. Zumindest aber wirkte sie viel zu jung, als dass sie Carlos auf irgendwelche dummen Gedanken bringen könnte. Davon war Carmen überzeugt.