Da war sie nun, diejenige, die er in Gedanken mehrere Male an diesem Tage gesucht hatte. Sie, die sich permanent wie eine überfürsorgliche Mutter aufführte, die ihm zugleich jedoch auch die liebste und bekannteste Person in dieser mickrigen, noch geheimnisvollen Stadt war. Während er ihr den widerwilligen, allerliebsten Schützling mimen musste, wurde sie von ihm wie die beste Freundin behandelt, diejenige, mit der man alles durchstehen konnte. Und obgleich da jenes starke, geschwisterliche Band zwischen ihnen bestand, herrschte in demselben Bereich zwischen denselben Personen immer mal wieder eine gewisse negative, zerreißende Spannung - Angenervt von der altbekannten Mutterrolle, die Frey viel zu häufig, viel zu gerne einnahm, wandte der Kurzhaarige sein Haupt von ebenjener Person ab, schloss die Augen, um die schweren, lastenden Blicke der anderen zu meiden. Starrköpfig war er, starrköpfig wie eh und je, denn genau so gab er sich stets, wenn es zu derartigen Situationen kam. Und speziell diese Starrköpfigkeit war es, die es ihn erlaubte, für den Bruchteil einer Sekunde die gesamte, ungewünschte, vor allem aber angespannte Außenwelt um ihn herum eiskalt auszublenden. In einem fortwährenden Mantra wiederholte Lest die trotzigen Gedanken, welche ihn in solchen Momenten immer wieder heimsuchten, immerhin war es allseits bekannt, dass man sich auf diese simple Art und Weise gewisse Lügen glaubhaft gestalten konnte, sie zur gold'nen Wahrheit umwandeln konnte. Alt genug. Kein Kind mehr. Selbstständig und erwachsen. Spielt nicht mehr mit den Puppen. Einzig die kontinuierliche Stille umhüllte den Herren noch mithilfe eines seichten, weder durchsichtigen, noch festen Schleiers. Bisher war ihm doch eh noch nichts geschehen, oder? Nun, von der unansehnlichen Narbe, welche sich den dünnen Arm entlang zog, einmal abgesehen - Aber die entstand ganz gewiss nicht auf Grundlage seines nimmersatten Abenteuerdranges! Ach, welch' eine gräuliche Ironie das doch war! Das naive Kind meint schließlich auch immer, es sei bereits ein erfahrener Erwachsener, nicht? Letztlich aber, so muss man ihm zugestehen, beruhigte jener aufbauende Gedanke ihn doch merklich, ließ ihn unmittelbar nach Beendigung der Wiederholungen großzügig ausatmen, entspannen.
Ohne sich großartig des Zögerns zu bedienen, öffnete der junge Mann eines der violetten Augen, linste das kuriose Mädchen, Kohaku, die vermeintliche Kellnerin, sowie die ältere Schwester an, beobachtete diese. Auch bemerkte er, dass die kurzgeratene Begleitung der Letztgenannten einen Stuhl herangezogen hatte, sie veranlasste, sich zu setzen. Ein sichtbar erleichtertes Lächeln begann die dünnen, getrockneten Lippen des selbsternannten Abenteurers zu umspielen, als dieses Bild vollständig bei seinem Denkorgan angelangt war. Erfreut, nahezu enthusiastisch, rückte er mitsamt der hölzernen Sitzgelegenheit, auf der er sich zu gerne breit machte, näher zu besagter Schwester, legte einen Arm um dessen Schultern, zog Frey mit einem minimalen Kraftaufwand näher an seine Seite. »Du wirst schon nichts bereuen!«, wisperte er ihr zuversichtlich zu, »Du machst dir einfach nur viel zu viele Sorgen, Frey... Kohaku wird mich schon nicht beißen~« Apropos..! Augenblicklich wandte Lest sich zu der kurzhaarigen Begleitung, mit der er in dieses Lokal eingetreten war. Dieser streckte er die freie Hand entgegen, hob den Daumen an, grinste so breit wie ein Honigkuchenpferd, »Danke dir, Kohaku!«, stieß er frohen Mutes aus - Ohne sie hätte die Sturheit von Schwester sich vermutlich nie hingepflanzt, sondern stünde sicherlich noch in zehn Jahren zitternd, angespannt an Ort und Stelle!
Anschließend vergingen einige Momente, in denen die blonde Brillenträgerin mit den langen, geflochtenen Haaren zögerlich verschwand, in die Küche schritt, um den drei Gästen - ein Glück, dass Frey sich von der Gruppe überreden ließ, sich doch noch etwas Essbares zu bestellen! - die bestellten Gerichte zu bringen. Weiterhin herrschte eine nichts sagende Stille, welche jedoch genauso schnell, wie sie aufgekommen war, im unendlichen Nirgendwo verschwand, als des Abenteurers mütterliches Geschwisterkind ihre Stimme erhob, um eine durchaus... willkürliche, vor allem aber... irritierende Frage in den Raum zu werfen..? Richtige, anfassbare Existenzen oder Illusionen einer Einzelperson? Überfordert schluckte der junge Herr, um die nervöse, trockene Kehle zu befeuchten, kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Ich... Err...«, als wäre er auf frischer Tat erwischt worden, stammelte Lest einige bedeutungslose Laute vor sich her, mied den Blickkontakt mit der herzallerliebsten Schwester und suchte diesen stattdessen lieber bei Kohaku. Hilfesuchend. Ein lauter, auffälliger Schrei nach Unterstützung. Er... Er war sich sicher, dass seine neue Bekanntschaft ihn aus der misslichen Lage retten würde! Misslich? Oh ja, sehr sogar! Lest war noch nie ein großer Freund der Philosophie oder anderen ähnlichen Wissenschaften gewesen, es beschäftigte ihn nur selten, wie moralisch etwas war oder ob ein Stein beispielsweise im kältesten Winter fror - Ebenso uninteressant war für ihn also der Inhalt der zuvor gestellten Frage. Warum auch sollte er sich über so etwas Gedanken machen, wenn er anstelle dessen einfach in den Tag hinein leben konnte? Es war nun einmal, wie es war, oder..?
Abermals schluckte der Kurzhaarige, warf einen hastigen Blick in die nicht neue, nicht alte Holzdecke der Taverne. Er musste raus. Raus aus dieser Situation, aus diesem lästigen Gedankenlauf. Allerdings... Wie sollte er das anstellen? »Da fällt mir ein..!«, brachte der Hellhaarige aus heiterem Himmel heraus schließlich hervor, sprang auf und schlug die Hände auf den kleinen Tisch, »Kohaku! Wir wollten ja demnächst die Gegend erkunden! Hmm... Hast du eine Idee, wo wir anfangen sol--«
Lautes, unüberhörbares Klirren. Das unverwechselbare Geräusch zersplitternden Geschirres gellte durch den Speisesaal der Taverne. Unterbrochen. Lautlos verhallten die restlichen Worte des kindlichen Herren, nachdem sie mittendrin auseinander getrieben wurden. Und genau wie die seinigen Worte es taten, verstummten auch die restlichen Gespräche, welche parallel stattfanden. Schweigend lenkten sämtliche Gäste, Lest einbezogen, ihr Augenmerk auf die offensichtliche Quelle des unangenehmen Geräusches: Ein Mädchen, helle, blonde Strähnen, blaue Äuglein lag auf dem knarrenden Boden. Die Bedienung der drei war es, welche da, behaftet mit allerlei Soßenresten, saß. Es vergingen nicht viele Sekunden bis die erste Person aufsprang, um besagtem Fräulein zur Hilfe zur eilen - Ein junger Mann, leicht gebräunt, braune Haare und Augen. Ebenjener reichte dem Mädchen ihre verlorene Brille, schnauzte den perplex drein schauenden Gast, den Verursacher des Missgeschicks, an. Und Lest? Zunächst warf der Dunkeläugige, welcher im Übrigen so manchen Soßenspritzer und Rouladenrest abbekommen hatte, den zwei Damen an seinem Tisch einen schnellen Blick zu, erhob sich kurz darauf ohne sich weiterer Worte zu bedienen und schritt entschlossen auf den Ort des Geschehens, nicht unweit von ihnen, zu. Dort angekommen betrachtete er die verdreckte Umgebung, seufzte absichtlich laut, sodass auch ganz gewiss jedermann davon Wind bekam. »Das nenne ich mal Sauerei!«, kopfschüttelnd zuckte der Möchtegern daraufhin allerdings mit den Schultern - zwar störte es ihn persönlich, als peniblen Menschen, sehr, doch war dies mit Sicherheit nicht ein günstiger Zeitpunkt, um mit Mopp und Wassereimer anzurücken. Allen weiteren Ereignissen begegnete der Optimist anschließend mit einem warmherzigen Lächeln, überlegte im tiefsten Inneren jedoch für einen kurzen Moment - warum auch immer er das tat - eine der Rouladen zu nehmen und dem unvorsichtigen Gast in das Gesicht zu donnern, aber... Nun, das würde wohl noch mehr Dreck und Chaos bedeuten, wenngleich eine Essenschlacht durchaus etwas abwechslungsreiches an sich hatte... »Aber das dürfte man sicher schnell wieder erledigt haben - Brauchen die Herrschaften etwas Hilfe?«, wandte Lest sich letzten Endes jedoch an den Braunhaarigen, welcher der Brillenträgerin zuvor zur Seite stand. Das Putzen machte dem Hellhaarigen nicht viel aus, eher hatte er fast schon eine Vorliebe dafür entwickelt, weswegen er der Taverne wohl gerne diesen Gefallen tun würde.
// Es tut mir so leid, dass ihr so lange hierauf warten musstet D: