[Ran] kommt an und geht irgendwann wieder
Als Ran um fünf Uhr morgens in ihr Zimmer torkelte, bekam
sie die Welt nur noch zur Hälfte mit. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was
und ob sie überhaupt noch etwas nach der Fahrt gemacht hatte. Vermutlich
hatte sie ihr Uber einfach zu Hause abgeliefert – warum sie nach Hause wollte,
wusste sie nicht mehr – aber eine Flasche Vodka hatte sie sich noch aus dem
Rucksack ihres Kollegen mitgenommen. Eine hirnrissige Idee, wenn man ihren
momentanen Zustand bedachte, aber fuck it. Gerade war alles hirnrissig. Und sie
war endlich an einem Punkt angekommen, an dem sie nicht mehr das Bedürfnis
hatte, konstant Alkohol nach zu kippen. Ein Zustand, der schwummrig genug war,
dass sie vielleicht ein -, zwei Schlucke von dem Vodka genießen wollte, und den
Rest des Morgens die unglaubliche Leere in ihrem Kopf genießen konnte. Nichts
schien mehr von Bedeutung zu sein. Und wenn nichts Bedeutung hatte, konnte es
ihr auch nicht mehr weh tun. In diesem Moment waren alle Begegnungen, die sie
bisher gemacht hatte, egal. Alle Menschen, die sie bis jetzt wiedergetroffen
hatte, egal. Selbst sie war gerade egal. Die Minuten verstrichen, während sie
auf ihrem Stuhl saß – aus irgendeinem Grund wurde ihr im Liegen schnell
schlecht, weswegen sie instinktiv die unbequemere Variante der
Sitzmöglichkeiten wählte – und der sich im Kreis drehenden Materie vor ihren geschlossenen
Augenlidern widmete, und sie immer mal wieder den Namen Cedric in ihren
Gedanken erwischte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die schnell an ihrem
Wangen herunterliefen. Hatte sie es nicht eigentlich geschafft gehabt? Einen Zustand
der Betrunkenheit zu kreieren, der ihr ganzes Leid wegschwappen lassen würde? Es
hatte die ganzen Male in England doch auch funktioniert. Wieso nicht jetzt? Ich
konnte es besser wegschieben, kam ihr die nüchterne Antwort. Damals konnte
sie nicht sehen, wie Cedric auf sie reagieren würde. Sie hatte noch einen
letzten Schleier der Illusion aufbauen können, dass es alles gar nicht so schlimm
werden würde, auch wenn sie innerlich wusste, dass es sicher so sein würde. Doch
jetzt war es offensichtlich. Der regnerische Abend am Strand war Realität, auch
wenn sie diese nicht wahrhaben wollte und die Konfrontation hatte sie mehr
getroffen, als sie gedacht hätte. Fast schon automatisch griff sie wieder zur Vodkaflasche,
ihr Gesicht bedeckte sich weiter mit Tränen.
Sie war sich nicht sicher, wann genau sie eingeschlafen war,
aber als sie das brennende Licht durch die Vorhänge attackierte wusste sie, dass
es nicht genug war. Ein stechendes Pochen begrüßte sie und damit der Drang,
sich im Badezimmer zu entleeren. Schlaff ließ sie ihren Kopf auf der Toilettenbrille
liegen, während sie langsam die Geschehnisse des letzten Abends Revue passieren
ließ. Wie war sie nochmal nach Hause gekommen? Sie konnte sich noch daran
erinnern, dass sie und Kyle an der Tankstelle Alkohol eingekauft hatten, aber
was war dann passiert? Alles danach war anscheinend von ihrem Gedächtnis
gelöscht. Nachdem sie den nächsten Schwall Gift aus sich herausbrach, wischte
sie sich ihr Gesicht ab, bevor sie sich wieder neben die Toilette hockte. Waren
ihre Augen etwa geschwollen? Vorsichtig tippte sie mit den Fingerspitzen auf
ihre Lider. Was zum… Ja, kein Zweifel. Sie waren tatsächlich geschwollen.
Hatte sie etwa die Nacht durchgeweint? Aber warum? Who cares. Der
depressiven Kater, in den sie sich getrunken hatte, ließ keine Freiheit mehr,
irgendwelche Gedanken zu produzieren. Schon gar keine Produktiven. Das letzte
bisschen aus ihrer Magengrube verschwand auch schnell in der Toilette und nach
einigen Sekunden, vielleicht auch Minuten, traute sie sich wieder, aufzustehen,
und in den Spiegel zu schauen. Verdammt, die sind ja wirklich total aufgequollen.
Wie sie aussah gefiel ihr gar nicht. Sie wusste nicht, warum sie geweint hatte,
aber sie hoffte, dass sie es nicht vor irgendwem anders gemacht hatte. Bitte
saß sie einfach nur allein in ihrem Zimmer und heulte… weswegen auch immer. Der
Gedanke daran war zwar nicht weniger erbärmlich, aber so konnte sie es
wenigstens für sich behalten. So musste die Erbärmlichkeit diesen Raum nie verlassen.
Aus reiner Gewohnheit schleifte sie sich zu ihrem Handy. Abgesehen von ihren Gruppenchats
war nicht besonders viel los. Eine WhatsApp von ihrem Kollegen, der noch
gefragt hatte, wo sie war, aber die Antwort darauf hatte er vermutlich
mittlerweile bekommen. Bevor sie die Nachricht vollständig gelesen hatte, swipte
sie sie schon weg und machte einen ihrer Gruppenchats mit ihren Saufkameraden
auf, um ihre jetzige Situation kundzugeben. „Welp, just woke up and no clue how
I got home lol Typical Friday night.“ Während sie sich casual mit ihren
Freunden darüber unterhielt, wie die Nächte der anderen verlaufen waren,
schmiss sie ihre Kaffeemaschine an und schaute nebensächlich auf die Uhr. Es
war 14. Ugh. Egal, wann sie tatsächlich eingeschlafen war, zu wenig für einen so
harten Kater. Ihr Kaffee war noch nicht abgekühlt, da stellte sie sich schon
die nächste Tasse in die Maschine. Vielleicht sollte sie noch ‘ne
Schmerztablette einschmeißen.
Den Rest des Tages tippte sie noch weiter auf ihrem Handy
rum, wechselte regelmäßig zwischen Instagram und WhatsApp, um ihr die Zeit zu
vertreiben, und irgendwann ließ sie es tatsächlich zu, an den gestrigen Tag zu
denken. An Cedric. An den Mann, den sie einmal geliebt hatte, den sie einmal
heiraten wollte. Doch dieser Mensch schien gerade so weit weg. Sie hatte nicht
damit gerechnet, dass sie ihr Vorhaben so schnell erledigen würde. Sie hatte
sicher damit gerechnet, dass sie ein ganzes Semester brauchen würde, um ihn
ausfindig zu machen. Und jetzt hatte sie nicht mal einen Monat gebraucht, um das
abschließende Gespräch zu führen, welches sie gesucht hatte. Die emotionale
Erlösung, die sie sich darauf gehofft hatte, war allerdings nicht wie in ihren
Vorstellungen. Sie fühlte sich leicht, aber gleichzeitig auch todtraurig. Die
Schwere ihres Geheimnisses wurde durch die Schwere des Wissens ersetzt, wie
sehr sie Cedric leiden hatte lassen. Und auch wenn sie es niemals offen zugeben
würde, dafür fühlte sie sich schuldig. Dieser naive, treudumme Junge hätte nie
zu dem bitteren Häufchen Elend werden sollen, den sie anscheinend aus ihm
gemacht hatte. Und dann war da auch noch ihr Vater, der ihn anscheinend
angeschossen und von ihrem Tod berichtet haben soll. Wenn ich den
Schweinehund finde… Sie war wohl sehr weit unten auf der Liste, die ein Recht
dazu hatten, jemanden für das Zufügen von Leid schuldig zu machen, aber sie spielte
sowieso schon immer nach ihren eigenen Regeln. Und wenn sie sauer wegen irgendwas
sein wollte, dann war sie es. Abgesehen davon lenkte sie die Wut von ihrer Trauer
ab, und eine Ablenkung dieser war immer willkommen. Ob ihre Reise wohl doch
nicht beendet war? Sie hatte mit einem Menschen abschließen können, aber jetzt
war eine andere Person aufgetaucht, mit der sie noch ein Gespräch führen
wollte, obwohl sie ihn nie wieder hatte sehen wollen. Frustriert nahm sie den
letzten Schluck ihres dritten Kaffees und seufzte schwer aus. Eins nach dem
anderen. Immerhin hatte sie es geschafft eine jahrelange Bürde von ihr
selbst zu nehmen, hatte sie jetzt nicht mal das Recht auf ein bisschen Freude
und Zufriedenheit? Das Letzte, was sie brauchte, war auch noch als verbitterte
Trantüte zu enden. Alles war gut. Cedric konnte sich auskotzen und würde jetzt
sicher ein nettes Mädchen finden, dass alle seine Träume wahr werden lässt, er
lebte glücklich bis ans Ende seiner Tage, bekam ein paar Kinder, bla bla bla.
Damit musste sie sich jetzt nicht mehr beschäftigen. Ja. Sicher war alles in
Ordnung.
Die Tage vergingen, während sie weiterhin versuchte, das
Beste aus der Situation machen. Sie konzentrierte sich auf ihr Studium,
arbeitete weiter in der Bar und lebte ihr Leben. Irgendwann entschied sie sich
aufgrund der Kosten in ein Wohnheim an der Universität zu ziehen. Mit wem sie
da alles zusammenwohnte, interessierte sie eigentlich nicht, aber je mehr
Menschen in einem Wohnkomplex lebten, des do weniger kümmerte man sich darum,
was der andere machte, und diese Vorstellung gefiel ihr ungemein.
Mittlerweile war es schon wieder Frühling. Der dramatische
Sommer schien lange her zu sein. Viel zu lange, und… zugegeben, es ging ihr
nicht unbedingt schlecht. Ihr alkoholgetriebener Lebensstil hatte mit
Sicherheit kein Ende genommen. Vor allem nicht, wenn sie spät nachts wieder
nicht einschlafen konnte, aufgrund der Gedanken, die in ihrem Kopf rumspukten,
aber dass es sich bei dieser Gewohnheit um ein Problem handelte, gestand sie
sich nicht ein. Für sie funktionierte das alles so.
Und genau wie jeden Tag schob sie ihre Gedanken davon,
schmiss sich ihre Tasche über die Schulter und verließ das Haus, als ob all die
Probleme der Welt ihr nichts anhaben konnten.