MARLIN
Origin
Arane schrieb:Erinnerungen. An seine eigene Mutter. An Augen, die er von ihm geerbt hatte... das Einzige, was ihm von seinem Vater geblieben war. Erinnerungen, daran, dass seine Mutter stets den Blick abwandte, das stechende Grün nicht ertrug...
Backstory
Original Quotes [(c) Arane ]
Man sollte sich in so etwas wie Liebe nicht so dermaßen hineinsteigern… schließlich war Derartiges nicht mehr als eine Illusion.
Was, wenn ich keine Lust mehr habe, mich zusammenzureißen?
Immer noch etwas schlaftrunken suchte er sich seine Kleidungsstücke zusammen. Sein Blick fiel auf den Spiegel über der Kommode. Er erschrak für einen Moment, als er diese Gestalt hinter dem Glas sah, diese Gestalt mit tiefen Ringen unter den Augen, mit hageren Zügen und mit müden Augen, aus denen jegliches vor Ironie strotzendes Funkeln gewichen war, erschrak und realisierte, dass er es war, dieses kümmerliche Etwas.
Wie erbärmlich. Hastig wandte er sich ab, sich weis machend, dass es ihn kalt ließe, nicht fähig sich einzugestehen, dass es ihm Angst machte, dass seine Hände, wenn auch nur ein klein wenig, zitterten, wie er unaufhaltsam und mit beängstigender Geschwindigkeit zugrunde ging...
Wie sehr er doch den Tag herbeisehnte,
an dem sie endlich verstummen würde,
diese verfluchte Stimme in seinem Hinterkopf!
Wie im Traum. Ein furchtbarer
Traum, fand er.
Einer, in dem man nicht mehr recht unterscheiden konnte, zwischen Illusion und Realität, einer, in dem die Wände immer näher kamen, ihn zu erdrücken schienen... einer, der vor Aussichtslosigkeit strotzte. Atemnot. Ein Albtraum. Als würde man ihn würgen.
Marlin war nicht der Bücher wegen hier, sondern um Zeit zu vertreiben. Um nicht nach Hause zu müssen. Die Bücher waren bloß eine Ausrede. Er wusste das. Und irgendwie tat es weh, die Bücher für solch niedere Zwecke auszunützen. Wo waren bloß die Zeiten geblieben, in denen er sie regelrecht verschlungen hatte, die Bücher?
Lauf, Marlin, bevor es zu spät ist.
Das Zusammenleben zwischen Mia und ihm war zurzeit ein wunder Punkt in seinem Leben.
Festgenagelt. Nun konnte er nicht länger fliehen...
Er wusste nicht, ob er über so viel Dummheit eher lachen, oder den Kopf schütteln sollte. Die Menschen liebten es einfach, sich ins Unglück zu stürzen. Immer schon. Irgendwie tragisch, nicht wahr?Apropos tragisch (und apropos Dummheit)
Er entschied, dass es an der Zeit war, zu gehen.
„Mia… du scheinst ja heute gut gelaunt zu sein. Womit habe ich das verdient?“
„Sag, hast du eigentlich vor, noch einmal etwas zu wachsen?
Du tätest gut daran, Zwerg, dann müsstest du dich beim Küssen
nicht immer auf deine Zehenspitzen stellen“
Fast war es so, als wollte er mit seinen Sticheleien ihren Zorn heraufbeschwören…
Ob es ihm insgeheim Spaß machte, sich mit ihr zu zanken?
[...] ein provokanter Ausdruck auf dem Gesicht. Ich gebe nicht nach…
“Ich liebe dich!“
Haha. Erwischt. Kluges Mädchen.
Eins zu Null für sie, Marlin.
„Was willst du denn hören, Engelchen?“
„Etwa, dass ich dich auch liebe?
Dass ich mein Leben mit dir verbringen will?
Dass du die Eine bist… oh ja, das hören Frauen besonders gern“
Game Over, Mia-Herzchen.
„Weißt du was, Mia“, meinte er und sank theatralisch vor ihr auf die Knie, seine giftig grünen Augen waren fest an die ihren geheftet, „ich liebe dich! Schon seit dem Moment, an dem ich dir begegnet bin. Du bist diejenige, von der ich nachts träume und die ich herbeisehne, sobald ich aufgewacht bin… Mein Herz gehört dir, immer schon, du hast es nur noch nicht realisiert. Ohne dich… würde ich zugrunde gehen… du bist mein Leben.“ Er flötete die Worte förmlich, honigsüß und sanft klangen sie, wie selten etwas aus seinem Mund, und heuchlerisch, wenn man genau hinhörte. Sein überlegenes Lächeln war nicht von seinem Platz gewichen.
„Zufrieden, mein Herz?“ Unverkennbarer Spott.
„Ob das jetzt gelogen war? Wer weiß. Selbst wenn, wie willst du es herausfinden, hm? Das ist das Problem bei dieser Art von Worten… ich könnte sie noch so oft sagen und sie würden dennoch nicht ein Fünkchen wahrer werden.“ Er zuckte gleichgültig die Schultern.
„Und jetzt… darfst du mich küssen.“
Marlin schmunzelte, wagte es aber nicht, etwas zu erwidern.
Oh, doch, Mia, oh doch… Du machst dir ja immer noch Hoffnungen.
Er konnte es nicht mehr ertragen, ihr nervtötendes Getue, ihre Stimme... alles...
„Oder willst du mir nur wieder etwas vor heulen? Hmm? Was ist es dieses Mal?“
Marlin verspürte das Verlangen sie zu verletzen. Er sah sie nicht an, war zu sehr auf seine Wut konzentriert, als dass er irgendetwas hätte bemerken können.
Wir... irgendwie war ihm das zuwider.
“dann könntest du ja eigentlich damit aufhören, mich mit deiner Anwesenheit zu belästigen...“
„Weißt du, Mia, ich möchte mich bemühen.“
Kein Spott. Kein Spielereien. Pure Ernsthaftigkeit.
Seine Stimme war klar, etwas leise, aber klar.
„Angst zu verlieren, mein Herz?" gab er giftig zurück, „Spielverderberin. Aber seien wir mal ehrlich, wir wussten beide von Anfang an, dass du keine Chance hattest.“
"Ich bin schwanger. Und nun darfst du dreimal raten von wem."
„Das ist nicht wahr... Du lügst, nicht wahr, Mia, du lügst doch...?“
„Mia... du musst ins Krankenhaus... sofort! Noch... noch ist es nicht zu spät... Du weißt, dass wir es nicht behalten können... das weißt du doch?“ Eindringlich fixierte er sie mit seinen Augen, als müsste er sie überreden... Er klang hysterisch, seine Stimme war brüchig, die Selbstsicherheit, die er sonst immer ausstrahlte, am Bröckeln... alles, was blieb war Angst... verdammt große Angst.
„Das ist alles deine Schuld!"
Fahr doch zur Hölle!
„Du willst das Kind gar nicht? Eine etwas späte Erkenntnis, findest du nicht?“, höhnte er.
Das Baby...sein Kind würde geboren werden. Das Kind, das er nie wollte... Das Kind, das sein Leben ruiniert hatte...
Es war schon verrückt, dass er jetzt hier stand, vor dem Krankenhaus, ohne recht zu wissen, was er hier sollte... Warum war er hier? Um des Kindes willen? Um des Kindes willen, das er hasste?
Tara. So hieß sie also, seine Tochter...
Er sprach ihn aus, flüsternd nur, und fand zugleich, dass es merkwürdig war...
Ob sie ihm wohl ähnlich sah?
Seit wann er sie wohl als solche bezeichnete? Als seine Tochter? Das war ja fast, als hätte er sie akzeptiert. Hätte er sich nicht etwas Besseres einfallen lassen können? Gör...? Teufelsbrut?
„Sag... kann ich sie sehen?“ Das klang so gar nicht nach ihm.
„Morgenstern... weißt du, Tara bedeutet Morgenstern“, sprudelte es schließlich aus ihm hervor, zusammenhanglos und etwas wirr, seine Stimme hatte nicht die gewohnte Festigkeit. Gott, was für einen Schwachsinn plappere ich hier eigentlich?
„Ich wusste, dass du einen derartig kitschigen Namen aussuchen würdest“, sagte er. Und konnte einfach nicht zugeben, dass er ihn insgeheim schön fand, den Namen.
Er hasste dieses Balg...
er hatte doch selbst nie einen Vater gehabt...
Wie also könnte ausgerechnet er für Tara sorgen?
„Aber... eines will ich noch wissen.... sag, hat sie grüne Augen? Hat sie... meine Augen?“
Für ihn gab es hier nichts als Monotonie und Trostlosigkeit. Und eine Tochter, Marlin, erinnerte ihn diese lästige Stimme in seinem Inneren. Oh, ja, Tara gab es ja auch noch. Das blendete er gerne aus. Warum eigentlich? Weil er selbst nicht genau wusste, was er für sie empfand? Weil er womöglich sogar ein bisschen Angst davor hatte, sich darüber klar zu werden? Angst davor, herauszufinden, dass sie ihm mehr bedeutete, als er gedacht hatte? Er schob diese Gedanken beiseite, wollte sich nicht länger damit auseinandersetzen. Feigling. Nun, da könnte die Stimme in seinem Kopf sogar recht haben... er war ein verfluchter Feigling.
Shortstory
Das kleine Häuschen lag still zwischen all den anderen inmitten einer friedlichen, gesitteten Anlegerschaft. Ihr gemeinsames, trautes Heim. Er hatte dieses Viertel schon immer gehasst, die ruhige Straße, in der kaum ein Auto vorbei fuhr, die zugeschnittenen Bäume, alle auf Gleichnis getrimmt, die Nachbarn, welche stolz mit ihren Vorurteilen und ihrer Arroganz hausieren gingen – verpackt in heuchlerischer Höflichkeit. Ah, was machte er hier? Was machten sie hier? So tun, als passten sie hier rein, in diese Straße, diese Nachbarschaft, ein glückliches Paar mit einer kleinen, süßen Tochter? Oder was? Das ich nicht lache. Sesshaft werden. Er hatte es wirklich versucht, nicht wahr? Ihr zuliebe. Nein. Er hatte sich selbst beweisen wollen, dass er es konnte, wenn er es nur wollte, dass er in der Lage war, sich zu ändern, das Gegenteil zu werden von dem, was seine Eltern gewesen waren. Nicht so zu sein wie er. Immerhin, er hatte jetzt eine Tochter. Wie alt war sie mittlerweile eigentlich?
Marlin wandte den Blick von der Straße ab, ging zum Kühlschrank und köpfte sich ein Bier, ehe er sich einen Stuhl heranzog. Mia war nicht da. Natürlich war sie es nicht, genau deshalb war er ja jetzt zurück gekommen. Er fürchtete, wenn er sie noch einmal sehen – sich noch einmal mit ihr streiten, sie noch einmal vögeln würde – würde er seine Entscheidung noch einmal in Frage stellen. Allein das er ein Wanken in Betracht zog, gab ihm zu Denken – nein, machte ihn wütend und zwar auf sich selbst. Hatte er sich schon so lange auf diese liebliche Idylle eingelassen, dass er ohne Mia nicht mehr konnte? Das war absurd. Ganz und gar lächerlich. Es war die Abhängigkeit die er ablehnte, die er regelrecht verabscheute. Seine Mutter, die von seinem Vater abhängig gewesen war, so sehr, dass sie alles mit sich machen ließ. Er selbst, als Kind, der so völlig von seiner Mutter abhing. Er durfte nicht zu lassen, dass Mia eine derartige Person für ihn wurde. Er hasste sie. Daran musste er sich erinnern. An ihre nervige Art, ihren Dummkopf, ihre streitsüchtige Ader, ihr Besitzergreifen. Weshalb nur gelang es ihm diesmal so schlecht, die Worte wirklich anzunehmen, tatsächlich daran zu glauben? Er hatte doch sonst kein Problem damit. Es reicht. Mia hatte sich immer fester an ihn geklammert, die Schlinge immer enger gezogen. Es war nicht das Kind, welches ihn für immer an sie band, es war alles an ihr, das was er nicht verstehen, so auch nicht loslassen konnte. Was war es? Wie hatte es je dazu kommen können?
Marlin knallte die halbleere Bierflasche auf den Tisch. Ganz egal was es war, er hatte eine Lösung für dieses Problem. Er hatte genug von dem Leben hier, dieser Scheinwelt, die so verkehrt, so fatal wirkte. Das Leben eines Hypokriten – waren es nicht solche, die er sowieso nicht ausstehen konnte? Naja, am Ende hatte Marlin sich selbst auch nie besonders leiden können – es war der beste Charakterzug den er hatte.
Er schob den Stuhl nach hinten, stand auf, griff nach der Bierflasche und ging schließlich die Treppe nach oben. Die meisten seiner Sachen befanden sich verstreut hier zwischen den Zimmern, ein alter Rucksack müsste auch noch irgendwo sein. Trautes Heim, Glück allein. Ha – nicht für ihn, nein. Er fragte sich nicht zum ersten mal, warum dieses Haus – dieses kleine, hübsche Häuslein – so, nun, positiv wirkte. Er bezweifelte, dass Mia sich besonders gut darum kümmerte – oder täuschte er sich hier? Das Haus in dem er aufgewachsen war, hatte grau und schal dagegen gewirkt, eine schmutzige Bruchbude, in der Chaos einherzog und Unheil einen bei jedem Schritt verfolgte. Dunkelheit, die bereits in der Wurzel verwoben war. Das hier? Das war anders und er konnte sich nicht erklären, warum. Vielleicht war das der Grund, warum dieses hübsche Häuslein immer so verfälscht, so unecht, so gekünstelt auf ihn gewirkt hatte – bis zu einem Maße, dass es ihn krank machte. Ziemlich ironisch, nicht?
Nebenbei suchte Marlin seine Sachen zusammen, fand den alten, zerlumpten Rucksack und überlegte, was mitsollte. Das Bier leerte sich derweil unmerklich. Er stromerte von einem Zimmer zum nächsten und wieder zurück. Obwohl die Wohnung klein war, fanden sich unsäglich viele Sachen darin – die meisten von Mia. Oder ihrer Tochter. Den Unterschied ausmachen ließ sich eigentlich nur an Größe, wobei er bei den Kuscheltieren am Ende überhaupt nicht mehr sicher war, zu wem sie gehörten. Es war auch einerlei. Er kickte eines davon mit dem Fuß weg. Hört auf mich so vorwurfsvoll anzustarren., dachte er mit einem Schnauben. Bescheuert. Er schnürte den Rucksack gerade zu, als er unten plötzlich die Haustür hörte.
Scheiße.
Marlin schulterte den Rucksack, stellte die leere Bierflasche auf einer Kommode ab. Mia. Was machte sie schon zurück? Oder hatte er doch länger gebraucht, als gedacht? Zu sehr in Gedanken verloren gewesen, was?, zog ihn seine innere Stimme auf, doch er brachte sie unwirsch zum Schweigen. Es war offensichtlich, dass er hier gewesen war, wenn Mia das Chaos hier entdeckte. Anderseits war es nichts Neues. Er kam und ging wie es ihm beliebte, war schon oft tagelang oder gar wochenlang weg gewesen, ehe er wieder auftauchte. Mia würde nicht mit ihm rechnen, nicht jetzt schon, da er erst vor ein paar Tagen gegangen war.
Für einen kurzen Moment stand Marlin unentschieden oben am Treppengeländer. Was waren die Optionen? Sich verstecken, wie der Feigling, der er war? Rausschleichen? Oder ganz provokant die Treppe nach unten stolzieren und ihr direkt auf Nimmerwiedersehen sagen? Seine Mundwinkel zuckten bei der Idee. Mia's Gesichtsausdruck wäre preiswert. Würde sie zuerst heulen oder ihn zuerst anschreien? Ah, sich ihr Gezeter jetzt anhören zu müssen, darauf hatte er wirklich keine Lust. Er würde dann wohl mit einer Ausrede abhauen – und wiederkehren. Bist also doch abhängig von ihr, was?, flüsterte der Hohn und Marlin's Gesicht nahm einen wutverzerrten Ausdruck an, wenn ihn auch niemand sehen konnte. Er hasste es, weil die Aussage recht behielt, weil eben jene Wahrheit ihn jedoch anwiderte.
Geräusche von unten rissen ihn schließlich wieder aus seinen Gedanken. Er hörte Mia sprechen, verstand jedoch nicht was. Dann – fiel die Haustür wieder zu. Ein kurzer Moment der Stille trat ein. Marlin wartete ab – war sie etwa schon wieder gegangen? Sollte ihm tatsächlich ein derartiges Glück beschienen sein? Als er auch weiterhin nichts hörte, setzte er sich schließlich in Bewegung. Langsam und bedächtig, um keinen unnötigen Laut zu machen. Wie ein Einbrecher in seinem eigenen Haus. Aber das war er auch irgendwie. Hier hatte er sich schon immer wie ein Eindringling gefühlt.
Unten angekommen wähnte er sich bereits in Sicherheit, als die letzte Treppenstufe knarzte.
„Mama?“, hörte er eine Stimme. Die Stimme eines Kindes. Seines.
Tatsächlich lief im nächsten Moment das kleine Gör aus dem Wohnzimmer, stockte schließlich und sah ihn mit großen, unterschiedlichen Augen an. Was macht sie hier, verdammt nochmal?
Ihr hatte es wohl ein wenig die Sprache verschlagen, Teufel, er hatte wirklich keine Ahnung wie alt sie war. Oder wie zum Henker er mit ihr umzuspringen hatte. Marlin legte schließlich einen Finger an die Lippen und bedeutete ihr so einfach leise zu sein. Vielleicht konnte er dann so einfach durch die Hintertür verschwinden. Tara zu begegnen, nein, das hatte er nicht miteinkalkuliert. Er hatte sie ja zumeist gemieden – aus gutem Grund.
„Gehst du weg?“, fragte sie dann doch, den Blick musternd auf seinen großen Rucksack gerichtet, noch während Marlin nach einer Lösung suchte. Er ging nicht darauf ein.
„Sag deiner Mutter nicht, dass ich hier war.“, erklärte er, „Machst du das für mich?“
Das Kind blickte wieder zu ihm, sah ihn nur stumm an, ehe es langsam, doch eher unsicher nickte. So... und jetzt? Marlin sah widerstrebend zu dem Mädchen, rang sich schließlich dazu durch, ihr kurz die Hand auf den Kopf zu legen. Das... war doch eine belohnende Geste, oder? Doch ihm war eher, als würde er sich an ihr verbrennen, weswegen er die Hand auch sofort wieder zurückzog. In diesem Moment hörte er erneut, wie der Schlüssel in die Haustür gesteckt wurde. Mia war offenbar nur kurz nochmal etwas holen gegangen. Kurz drehten sich beide Köpfe zur Haustür um, doch Marlin wartete keinen Augenblick länger. Er schlüpfte durch den Flur nach hinten, durch die Hintertür Richtung Garten. Dort hielt er jedoch noch einmal inne, schielte durch den offenen Türspalt zurück in den Flur, sah Mia. Mia und Tara und dieses unglückselige Haus. Es hatte ihn schon immer gehasst, er passte nicht in dieses Bild und es war nicht die Art von beschissenen Leben, die ihm entsprach. Familie. Was war das überhaupt? Ein lächerliches Konstrukt von Schwächlingen, die von sich gegenseitig abhängig waren. Das hatte mit ihm noch nie recht funktioniert. Nun, es war den Versuch wert gewesen – nun hatte er sich bewiesen, dass es von Anfang an ein klägliches Unterfangen gewesen war. Es war einerlei. Er würde weiterziehen, diese Episode hinter sich lassen und nie zurückblicken.
Auf Nimmerwiedersehen, kleiner Wirbelwind., verabschiedete Marlin die Frau in Gedanken, ehe ein Lächeln seine Mundwinkel umspielte. Frei. Daran musste er denken. Keine Bindungen, nichts das ihn hielt. Den Schmerz, den er verspürte, ignorierte er schlichtweg, blickte nach vorne, raffte sich auf. Marlin stieg über den Gartenzaun und verschwand so vom Grundstück, aus der Nachbarschaft, aus Mia's Leben. Das glaubte er zumindest. Doch wie sehr er sich da täuschen würde, wurde ihm erst Jahre später bewusst.
Vielleicht hätte ich es besser wissen müssen. Vielleicht zog ich so eine Scheiße aber auch einfach nur an.
Andererseits: Wer war auch schon so blöd und dealte im letzten Loch, auf dem Klo einer Mittelschule? Jeder konnte hier rein kommen. So wie ich gerade. Selbst, wenn es sich um das hinterste Eck handeln mochte.
„Scheiße!“, entfuhr's dem Einen, während der Andere unter Fluchen aufsprang und hektisch versuchte, die kleinen Tütchen mit dem weißen Pulver verschwinden zu lassen. Als ob ich sie nicht längst gesehen hätte.
Ich hielt die Hand noch auf der Klinke gelegt. Schwere Eisentür in einem hässlichem Marineblau. Das ganze abgeranzte Gebäude schien noch aus Kriegszeiten zu sein.
Vielleicht hätte ich weg laufen sollen. Das wäre das Schlaue gewesen, oder? Flink war ich immerhin, dank meiner kleinen, schmächtigen Gestalt. Wenn ich denn für irgendetwas wirklich dankbar sein konnte.
Aber ich tat es nicht. Wohlwollende Stimmen mochten behaupten, es läge an dem Schreck, Zeuge etwas Illegalem zu sein, der mich festfrieren ließ. Bullshit. Als geschähen tagtäglich nicht genug verwerflicher Dinge, bösartiger Natur, als dass sich irgendjemand wirklich für zwei einfältige Oberstufler interessieren würde, die ein bisschen mit Drogen hantierten. Wenn sie sogar blöd genug dazu waren, sich von einem Zwölfjährigen erwischen zu lassen.
Nein, es war also nicht mein Schock, der mich an Ort und Stelle verweilen ließ, es war der ihre. Der Ausdruck in ihren Gesichtern. Zu komisch. Flackerte tatsächlich Angst in ihren Augen auf, vor den Konsequenzen die ihnen drohten, wenn ich sie verpfeifen würde? Das war lächerlich. Ich war nie gefährlich für irgendwen gewesen.
Die beiden Kerle schienen sich schließlich zu fangen und prompt hatte ich der Bulligere der beiden gepackt und in die Toilette gezogen. Im Schwung der Bewegung platzierte er mich unsanft auf ein Pissoir. Ekelhaft.
„Hey du kleiner Pisser.“, sagte der Kleinere von ihnen zu mir. Mir fiel auf, wie unsagbar ordinär beide aussahen. Keine Punks, aber auch keine Snobs. Nur zwei stinknormale, langweilige Jugendliche, die ein wenig Gefahr im Pulver suchten, um sich ins Verderben zu stürzen, wenn es sonst nichts tat. Idioten.
Vielleicht sollte ich mich eingeschüchtert fühlen. Immerhin waren sie größer, älter und stärker als ich. Vielleicht würden sie mich dann schnell wieder in Ruhe lassen. Andererseits ging etwas derart Dümmliches von ihnen aus, dass mir das durchaus schwer fiel. Die Angst, nun, die hatte er mir schon seit Langem ausgetrieben. Da gab es nur noch eine Sache.
„Hörst du zu? Du hast nichts gesehen, klar? Wir waren nie hier. Uns zu verpeifen, wird dir sonst leid tun.“
Ich blinzelte. Leere Drohungen? Mehr nicht?
Sein Kumpel stupste ihn an und knackte ausgedehnt mit den Fingern.
„Ich glaub, der kleine Huso kapiert noch nich' so ganz was du ihm sagen willst.“ Der Kerl leckte sich über die Lippen, wie ein Raubtier, welches den Geschmack seiner Beute schon im Mund hat. „Am besten wir gehen sicher, dass er versteht. Zu seinem Besten. Eine kleine Vorkostung. Damit er eine Vorstellung davon hat, was ihm blüht, sollte er die Klappe aufreißen.“ Die Idioten tauschten einen vielsagenden Blick aus.
Ah, dachte ich, Nicht doch.
Diese einzige Sache.
Selbst ein Idiot konnte es sehen. Die Angst in meinem Blick, jene Angst vor Schmerz, der nicht länger abzuwenden war. Es schien sie umzumehr anzustacheln.
Während sie mich schlugen, auf dem Jungsklo einer abgeranzten Mittelschule, wurde mir eine Sache klar. Wenn ich überleben wollte, musste ich die Kontrolle über meine Gedanken, Gefühle und Regungen erlangen. Sie entglitten mir noch immer und jedes mal bezahlte ich den Preis für meine Nachlassigkeit. Jedes verdammte Mal.
Sie wurden langsamer. Ein letzter Kick in die Magengrube, ehe einer von ihnen sagte: „Ich hoffe, das war dir eine Lektion, dich nicht mit uns anzulegen.“
Das war's.
Das war es?
Das war nichts. Die hatten ja nicht besonders lange durchgehalten. Oder war mein Hirn schon so vernebelt, dass gerade nur eine verdrehte, sicherere Version offenbart wurde? Nicht ausgeschlossen.
Es tat weh. Aber nichts, mit dem ich nicht klar kommen würde. Nichts, was ich nicht schon gewohnt war. Es lag eine gewisse, krankhafte Sicherheit in dieser Vertrautheit.
Ich fing an zu Lachen. Leise, wie ein Kichern. Das Geräusch wurde von meinem Blut abgedämpft. Ob es von meiner Nase oder meiner aufgesprungenen Lippe kam, konnte ich nicht ausmachen. War aber auch egal.
Natürlich geriet ich unbedarft in eine derartige Situation. Aber ah, wie beruhigend zu wissen, dass ich sie annehmen konnte, weil ich einfach viel, viel Schlimmeres gewohnt war.
Die Kerle sprachen in schnellem und leisen Ton zueinander, vielleicht auch zu mir, vielleicht sprachen sie auch gar nicht so leise und ich hörte nur nicht richtig, weil mein Hirn mit anderen Dingen beschäftigt war. Den Schmerz ausblenden zum Beispiel.
Sie verschwanden schließlich.
Ich blieb liegen. Es war nicht richtig. Ich musste den Schmerz erst annehmen, bis jener schließlich langsam von selbst wich. Es dauerte. Wie gut, dass ich heute sonst nichts mehr vorhatte.
Ich erblickte die Idioten wieder. Nachdem mir ihre Namen nicht bekannt war, war dies die beste Wahl, sie in meinem Kopf zu benennen. Sie schossen mir auf dem Schulhof prüfende Blicke zu. Natürlich hatte ich nichts gesagt. Was hätte ich auch davon gehabt? Nichts. Also behielt ich es lieber für mich, gut verwahrt. Es machte keinen Sinn, oder? Für mich tat es das.
Also lächelte ich einfach nur zurück.
Now
Day 1
Das Hotel, S. 2, 20. März 2020
Später Nachmittag
»Der nächste Ort, die nächste Stadt. Nur ein Punkt auf der Karte, ein Zwischenhalt.
Für ein oder zwei Nachte wird's gehen. «
Supermarkt in der Innenstadt, S. 10, 20. März 2020 - 03. April 2020
Später Nachmittag
»Ich bin ihr wieder begegnet. Mia. In einem beschissenen Kleinstadtsupermarkt.
Das ist nicht möglich. Sie sieht scheiße aus. Schluchzt direkt los, fragt mich nach Liebe. Lässt mich nicht los. Überhäuft mich mit Fragen. Bitten.
Was soll das?
Warum hat sie mich nicht vergessen?«
Die Bar, S. 30, 04. April 2020 - 17. April 2020
Abends
»Ich bin wütend. Suche mein Bier nun in der Bar. Kostet mich mein letztes Geld. Verdammt.
Schnorre mir eine Zigarette bei einer jungen Frau. Unterhalte mich tatsächlich mit ihr. Eine willkommene Ablenkung.«
Die Bar, S. 31-32, 19. April 2020 - 17. Mai 2020
Abends
»Kaum beschließe ich zu gehen und es für heute sein zu lassen, taucht sie wieder auf.
Ich fass es nicht. Diese Stadt ist ihren Namen kaum wert, wenn ein Mann nicht mal für einen Abend untertauchen kann.
Sie sieht besser aus als noch vor ein paar Stunden. Was geht in ihrem Kopf vor?
Ihre gespielte Fröhlichkeit macht mich krank. Sie fällt auf mich herein.
Und dann, ich auf sie.«
»Eine Nacht, huh?«
»Du kannst mich nicht aufhalten. - und doch hatte sie genau das geschafft.
Verdammt.«
Mia's Apartment, S. 1, 17. Mai 2020 - 06. Juni 2020
Nachts
"Wir können... Da weitermachen, wo wir gerade aufgehört haben."
»Sie hatte es gewagt mich zu küssen und ich, ich hatte ihr einen Kuss zurück gegeben.«
"Sei lieb zu mir, ja?"
»Was soll ich daraus nur machen?«
"Wo haben wir noch gleich aufgehört? Hier?"
»Meine Worte.
Ihre Haut unter meiner. Ihr Körper, der Meine.
Nur für diese Nacht?
Ich sage nicht Nein.
Sie auch nicht.
Egal, wie ich mit ihr umgehe.«
"Du hast dir dein Leid selbst zuzuschreiben."
Day 2
Mia's Apartment, S. 1, 04. Juli 2020
Frühmorgens
»Sie schläft noch.
Ich bin wach. Beinahe die ganze Nacht wach gewesen.
Na und?
Zeit zu gehen.«
Das Hotel, S. 2, 04. Juli 2020
Tagsüber
»Kaffee. Schlaf nachholen. Job.
Klare Linie.«
Der Eichhorn-Hof, S. 1, 04. Juli 2020 - 07. Oktober 2020
Später Nachmittag
»Was für ein Kaff. Aber sowas kenne ich.
Hoffe auf Arbeit. Irgendsoein Mädel ist auch hier.
Sieht nicht so aus, als gehöre sie hierher. Egal.
Wo steckt der Bauer?«
Der Dorfplatz, Fest, S. 3-6 , 23. Oktober 2020 - 28. Februar 2021
Früher Abend
»Hab den Job. Scheiß Job. Aber was soll's. Hab schon Schlimmeres erledigt.
Anweisungen waren ziemlich vage. Und jetzt?«
Abends
»Sie ist hier. Natürlich. Hat sie ein Gespür dafür oder ist es einfach nur der Alkohol, der sie lockt?
Dieses Outfit...
Sie überspielt es wieder. Was? Ihre Unsicherheit? Angst? Sorge, Panik, Kummer?
Diese erzwungene Lockerheit.
Bin ich grausam, wenn ich ihr das nehme?«
"Wir wissen beide, dass du wegen Ablenkung, Essen und Alkohol hergekommen bist und mit bisher niemanden gesprochen hast, außer um sie von der Seite anzupöbeln."
»Sie weint natürlich. Beschimpft mich. Ist okay. Besser als ihr krampfhafter Versuch.
Aber sie macht mich trotzdem wütend.
Letzte Nacht sollte ihr nicht gefallen haben. Nicht alles.«
"Eine Nacht reicht mir nicht"
"Siehst du das...?"
"Die sind überall."
»Es hätte nicht sein dürfen.«
"Ich will mehr davon. Tu mir weh. Mach mich kaputt... Ich kann sowieso nicht ohne dich leben, also tu uns beiden einen Gefallen und lass mich spüren, wie sehr du mich nicht bei dir haben willst. So lange, bis ich nicht mehr kann."
»NEIN!
Das sie es wagt.
Wer ist diese Frau noch?
Krankhaft.
Es darf nicht sein.
Sollte nicht.«
»Warum nicht?«
»Stopp. Ich erteile ihr eine erneute Abfuhr.
Wenn sie noch immer hartnäckig bleibt, weiß ich nicht ob-
Sie weint. Sie geht mir nicht nach.
Erleichterung. Und ein Hauch von Bedauern.
Nein, wirklich?
Aber es bleibt still.«
Der Marktplatz, S. 15, 21. März 2021
Nachts
»Ich bin nicht hier. Nicht mit meinen Gedanken.
Ungewöhnlich.
Let's stand by.«
Day 3
Das Hotel, S. 2, 11. April 2021
Time Passing
»Let's leave this miserable city.
Mein Geld reicht gerade noch für den letzten Bus. Shit.
Naja, Arbeit ist organisiert. Und dann - mal sehen.«
Day 4
Der Eichhorn-Hof, S1- , 11. April 2021 -
Morgens
»Some simple work as I'm nothing but a simple man. Ha.«
Mittags
»Das ist nicht dein scheiß ernst. Das kann echt nicht wahr sein. Tara.«
[...]