kommt an
[Cedric]
auf dem Dach eines unfertigen Gebäudes
Cedric blieb stehen, blickte schließlich auf. Ein reges Treiben umgab ihn, Menschen die von A nach B strömten, Menschen, die in Gruppen unterwegs waren, lachten, sich die Inhalte der Schaufenster besahen. So viele von ihnen, jeder mit seiner eigenen Geschichte, seinem eigenem Glück. Ihm schnürte es die Kehle zu. Warum war er hier? Von wo war er gekommen? Wieso waren hier so viele von ihnen, so viele, die ihn zu erdrücken versuchten? Er musste weg. Aber er konnte nicht. Wie angewurzelt blieb er stehen, wartete bis der Lauf der Sonne sich drehte, ertrug wie die Massen von Menschen an ihm vorbei rauschten, bis er glaubte zu ersticken. Warum nur hatte er aufgesehen? Es dauerte lange, bis er seine Beine dazu brachte, sich wieder in Bewegung zu setzen. Er hatte ganz vergessen wozu er her gekommen war. Um jemanden zu treffen? Um zum Friseur zu gehen? Um einfach nur einzukaufen? Aber es schien auch nicht mehr wichtig, wurde verdrängt von der Panik, die sein Inneres langsam aushöhlte. Dabei gab es dafür gar keinen Grund, aber war nicht gerade das das Seltsame daran? Er musste weg, weg von hier, raus aus der Innenstadt. Weit weg. Während er mit den Augen nach einer Fluchtmöglichkeit aus der Menschenmasse, dem Treiben einer Innenstadt suchte, geriet ein Schild in sein Augenmerk. Baustelle - betreten verboten. Die Eisengitter standen einen Spalt breit offen. Wer auch immer so fahrlässig gewesen war, dies nicht ordentlich zu verschließen, dem sei gedankt. Cedric schlüpfte ohne weiter Nachzudenken hindurch und obwohl die Menschenmenge sich direkt hinter dem Zaun befand, wirkte sie nun schon ein wenig weiter weg, ein wenig leiser, ein zusammengepresster Ton eines Hintergrundrauschens. Nur einen Moment inne halten, einen Augenblick verschnaufen. Weiter.
Bei der Baustelle handelte es sich um einen Rohbau. Was daraus am Ende einmal werden sollte, erschloss sich ihm nicht. Es spielte auch keine Rolle. Der Betonguss stand, eine Treppe führte nach oben, ein Stockwerk, zwei, drei, zehn. Er geriet außer Atem, erlaubte sich jedoch nicht stehen zu bleiben. Das würde ihm nur die Gelegenheit geben, seine Handlung zu hinterfragen und das wollte er ganz sicher nicht. Das konnte er sich ganz einfach nicht mehr leisten. Also ging es für ihn nur noch weiter nach oben.
Die Aussicht auf dem Dach war phänomenal. Cedric hatte keinen Blick dafür.
Was er sah war noch immer das rege Treiben der Masse, dessen Geräusche nur noch wie ein Flüstern zu ihm vordrangen. Oder bildete er sich das nur ein? Niemand sah ihn und er wollte auch nicht gesehen werden. Er genoss die Einsamkeit, das redete er sich vermehrt ein, wenn er in Wahrheit doch langsam daran krepierte. Niemand sah ihn. Niemand hörte ihn. Niemand bemerkte, wenn er fehlte. Er hatte sich zurückgezogen, abgeschottet, ja, dafür hatte er ein regelrechtes Talent. Wenn er Bekannte traf - wer mochte schon von Freunden sprechen? - zwang er sich zu einem Lächeln, einigen ironischen Äußerungen, die stets vom wahren Kern ablenkten. Das gelang ihm gut. Wann war er nur so ein Lügner verkommen? Er rechtfertigte diese damit, niemanden Sorgen bereiten zu wollen. Das entsprach der Wahrheit, wenngleich er sich stets im selben Moment fragte: wer sollte sich um ihn Sorgen machen?
Cedric umfasste mit beiden Händen das Eisengitter, welches bereits auf dem Dach angebracht war. Kühl lag es unter seinen Händen, der Wind pfiff ihm um die Ohren. Er blickte nach unten - weit nach unten. Ein Ausblick, als hätte er ihn schon einmal gesehen, auch wenn das unmöglich war. Nicht in dieser Realität jedenfalls.
Weiter. Doch wenn es nicht mehr weiter ging? Wenn es kein weiter mehr gab? Er befand sich in einer Sackgasse, seit Tagen, Wochen, Monaten, wer wusste wie lange schon. Er fand nicht zurück, nicht mehr zurück in sein Leben. Was bedeutete weiter dann? Er umfasste das Geländer fester, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten. Was musste er tun, damit es endlich aufhörte?
Er hasste es hier zu stehen. Er hasste es jeden Morgen aufzuwachen. Er hasste die Albträume, die ihn heimsuchten. Er hasste es, dass Ran zurückgekommen war und er hasste es, Noita verletzt zu haben. Er hasste sich selbst und doch war auch dies nur eine Lüge, denn was empfand er in Wirklichkeit noch? Da war nichts mehr, als eine gähnende, bodenlose Leere. Sein Ich das in der Stille ertrank, in der Schwärze versiegte, sich im Nichts verlor. Sollte er dem Nichts also nun endgültig entgegentreten?
Er wusste nicht, wann er hinter das Geländer getreten war. Ein schmaler Grad, mehr befand sich nicht mehr zwischen dem Dach und dem Abgrund. Ein Schritt und er würde fallen. Nur noch ein Schritt. Seine Hände schwitzten. Sein Herz pochte. Im ernst? Jetzt? Warum tat es das?
Er hatte keine Angst. Das glaubte er. Er sah den Abgrund unter sich und spürte nichts. Warum also klopfte sein Herz so laut?
Cedric schob es auf eine natürliche Reaktion des Körpers. Weiter nichts. Nichts, worüber man sich noch Gedanken machen musste. Sein Herz? Ha! Das er nicht lachte. Ein Leben lang hatte es ihn betrogen, da war es nur Recht, wenn er zum Ende hin Rache übte und es selbst hinterging, es ignorierte, wie er es schon viel früher hätte tun sollen. Sollte es nur wild schlagen, es war ihm egal.
Was würde passieren? Himmel, Hölle, weiter nichts? Würde es wen kümmern? Nick? Er hatte ihn längst zurück gelassen. Simon? Der hatte ihn vor Langem schon betrogen. Ran? Als ob. Damit hätte sie den Abschluss, den sie wollte. Noita? Ein Stich in seiner Brust. Noita? Sie war ohne ihn besser dran. Alle wären das, daran bestand für ihn kein Zweifel mehr.
Er erinnerte sich vage an die offene Notiz auf seinem Schreibtisch. Er hatte seine Gedanken ordnen wollen. Alles was auf dem Papier stand, war jedoch nur wiederholt: 'Es tut mir leid' Und das tat es.
Seine Hände schwitzten, sein Herz schlug, nur ein Schritt vom Abgrund entfernt, dann wäre es vorbei. Endlich wäre es vorbei. Cedric schloss die Augen und nahm einen letzten, tiefen Atemzug.